Ingolstadt
Ein besserer Platz nach dem Trauma

In einem Mehrfamilienhaus in Mailing-Feldkirchen leben Flüchtlinge zwischen 14 und 21 Jahren

02.03.2022 | Stand 23.09.2023, 0:00 Uhr
Entspannung nach dem Lernen: Baver, Faridullah und Sayed (v. l.) in der neuen Sitzecke. −Foto: Schattenhofer

Ingolstadt - In Mailing-Feldkirchen steht ein orangefarbenes Mehrfamilienhaus, in dem zwölf junge Männer leben.

Sie sind zwischen 14 und 21 Jahre alt, und sie eint ein Schicksal: Als minderjährige Jugendliche sind sie allein aus ihrem Heimatland geflüchtet. Die gemeinnützige Stiftung Jonas Better Place gibt ihnen ein neues Zuhause in Ingolstadt - ein kleiner Träger der Jugendhilfe, der kaum bekannt ist. Die hiesige Einrichtung leitet Sozialpädagogin Sandra Ridder.

In dem Haus wohnen die zwölf Jugendlichen wie in einer Großfamilie, rund um die Uhr betreut von Fachkräften. Nach dem Frühstück gehen sie zur Berufsschule, wo es spezielle Integrationsklassen gibt, deren Besuch bestenfalls nach drei Jahren mit dem Mittelschulabschluss endet. Sayed zum Beispiel ist fast am Ziel: Seine Noten sind gut, und im Sommer dürfte er diesen wichtigen Schritt geschafft haben. Dann kann er endlich zu seinen Geschwistern nach Berlin ziehen: Zwei Schwestern und drei Brüder von ihm leben dort, die er in den Ferien besucht.

Sayed, 18 Jahre alt, floh aus Afghanistan. "Wegen des Kriegs war meine ganze Familie schon weg, nur meine Eltern und ich lebten noch dort. Unser Haus war zerstört, wir mussten weglaufen - egal, wohin. Ich wollte einfach nur weg. Weg von der Situation", erzählt der junge Mann, der gut Deutsch spricht.

Mit 15 Jahren auf Baustelle Geld für die Flucht verdient

Im Alter von 15 Jahren machte er sich auf den Weg nach Deutschland. Jeder, der selbst Kinder in dem Alter hat, kann sich vorstellen, was das bedeutet. "Ich war lange im Iran", berichtet Sayed, und er wirkt dabei sehr gefasst. Er habe auf einer Baustelle gearbeitet, um Geld für die Flucht zu verdienen und lebte dort in einer Art Kantine. "Oft habe ich geglaubt, dass ich es nicht schaffe. Aber meine Freunde haben mich motiviert. " Über Serbien und Griechenland gelang ihm nach Monaten, sein Ziel zu erreichen: Deutschland.

Als minderjähriger Flüchtling durfte er nicht bei den Geschwistern in Berlin bleiben. Statt Großstadtflair erwartete Sayed in Ingolstadt ein Stadtteil mit dörflichen Strukturen. Genau das ist Teil des Programms bei Jonas Better Place: Die Jugendlichen sind ins Vereinsleben integriert, wie Sayed spielen viele beim TSV Mailing-Feldkirchen Fußball. Sie gehören zur Mannschaft, trainieren oder joggen mit den anderen oder unternehmen gemeinsam etwas. "Das sind nette Jungs", sagt Sayed. "Wir sind alle gleich, es läuft super. Mir macht Fußball Spaß, und Sport ist ja auch gesund. "

Faridullah aus Afghanistan steht gerade erst am Start: Der 18-Jährige ist in seinem Leben bisher nur zwei Jahre zur Schule gegangen - er kann nicht lesen oder schreiben und lernt jetzt erst einmal Deutsch. Über seine Flucht möchte er nicht sprechen. "Alle hier haben traumatische Erfahrungen gemacht", erklärt Christian Pfeffer vom psychologischen Fachdienst. "Allein das Verlassen der Familie ist dramatisch, die Zerrissenheit, die Verletzungen oder der Tod eines Familienangehörigen. "

Nach drei Jahren sollen sie auf eigenen Beinen stehen

Darum steht zu Beginn immer ein dreimonatiges Clearing, bei dem geklärt wird, welchen Förderbedarf der Jugendliche hat, welche Schule die richtige ist und welche Hilfe er sonst noch benötigt. "Das sind sehr viele Einzelgespräche", erklärt Sabine Faber, Geschäftsführerin der Stiftung. "Ziel ist, dass unsere Jungs es in drei Jahren schaffen, auf eigenen Beinen zu stehen. " Dazu müssen sie für die Schule, aber auch fürs Leben lernen: Ein Koch bereitet das Mittagessen zu, das Abendessen kochen die Bewohner selbst. Sie müssen auch putzen und waschen. "Mietfit werden", erklärt Sabine Faber. "Es ist nicht immer leicht, aber viele kleine Erfolge zeigen das Vorankommen. "

Der 18-jährige Baver, der zu Fuß und in einem Lkw versteckt aus der Türkei flüchtete und seit fünf Monaten in dem Haus lebt, erzählt stolz, dass er gerade seinen Freischwimmer und den Fahrrad-Führerschein gemacht hat. Die Jungs lieben es, zum Baden zu gehen. Überall im Haus hängen gerahmte Fotos von gemeinsamen Ferien in den Bergen, wo sie beim Klettern waren, geritten sind oder mit der Dorfmannschaft Fußball gespielt haben.

Baver will Koch werden, Faridullah Maler und Sayed Haustechniker, nachdem er auf der Baustelle im Iran und bei Praktika schon Erfahrungen gesammelt hat. Alles solide und gefragte Berufe. Sie haben sich im Haus eine neue Sitzecke und einen Fitnessraum im Keller eingerichtet - ihr ganzer Stolz. Dort hängt auch ein Boxsack, an dem Faridullah trainiert. "Unsere Jungs sind sehr fleißig und ehrgeizig", betont Sandra Ridder.

Die Leiterin der Einrichtung macht sich allerdings Sorgen wegen des Fachkräftemangels im Team: Gesucht werden Sozialpädagogen, Erzieher? oder Heilerziehungspfleger. "Die Arbeit ist sehr spannend", sagt Sandra Ridder. "Der Schichtdienst ist zwar anstrengend, aber wir haben auch viele Freiheiten und können unsere Neigungen einbringen. " Sabine Faber ergänzt: "Teamgeist ist unser Credo. " Und dann fügt sie noch hinzu, dass auch Fahrrad-Spenden immer willkommen sind.

DK

Suzanne Schattenhofer