Ingolstadt
Borderline und Hartz IV

Im Prozess um einen Raubüberfall im Klenzepark kommt auch die traurige Vorgeschichte der Angeklagten zur Sprache

19.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:46 Uhr
Der Tatort: Beim Holzpavillon im Klenzepark hat sich vor einem Jahr der Raubüberfall abgespielt. −Foto: Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Fortsetzung des Verfahrens gegen zwei geständige Angeklagte wegen der Beteiligung an einem Raubüberfall im Klenzepark im Juli 2017 vor dem Landgericht.

Dabei haben gestern die Vorgeschichten der jungen Frau und des jungen Mannes im Mittelpunkt gestanden. Beide hatten es in Kindheit und Jugend offenbar nicht gerade leicht.

Es ist wie so oft, wenn sich Menschen ohne auch nur halbwegs vernünftig erklärbare Gründe in Straftaten verstricken: Es wurde vorher zu wenig oder zu oberflächlich nachgedacht. Dass ein Quartett aus zwei jungen Frauen und zwei jungen Männern auf die Idee kam, sich mit einem Überfall eine Urlaubsreise nach Italien zu finanzieren (DK berichtete am Dienstag über den Prozessauftakt), ist wohl nur mit reichlich vorhandener Naivität bei allen Tätern zu erklären.

Weil Torheit aber bekanntlich nicht vor Strafe schützt, müssen jetzt die juristischen Konsequenzen ausgebadet werden. Und zumindest für den jetzt angeklagten 23-jährigen Hilfs- und Gelegenheitsarbeiter könnte es dabei recht eng werden. Vorsitzender Jochen Bösl wollte gestern zwar keinen offiziellen rechtlichen Hinweis geben, ließ aber durchblicken, dass sich die 1. Strafkammer nach gegenwärtigen Stand der Beweisaufnahme schwer tut, in der Tatbeteiligung des jungen Mannes weniger als die angeklagte besonders schwere räuberische Erpressung zu sehen. Und die bringt nun mal bei einem Schuldspruch in aller Regel einige Jahre Gefängnis ein.

Beim Bedrohen und Ausrauben des heute fast 25-jährigen Opfers an einem späten Juliabend 2017 im Klenzepark hatte zwar allen bisherigen Erkenntnissen zufolge ein derzeit noch in Italien inhaftierter, heute 26-jähriger Mann mit einem gezückten Messer Druck gemacht, doch auch der Mitläufer dürfte sich nach bisheriger Auffassung der Kammer im Sinne der Anklage schuldig gemacht haben, weil er nach Gebrauch einer Waffe durch den Komplizen nicht innehielt und sich am Fortgang des kriminellen Geschehens beteiligte.

Bei der angeklagten Ingolstädterin, die die anderen drei Täter vor dem Überfall beherbergt und das spätere Opfer, einen guten Bekannten der Frau, unter einem Vorwand zum Tatort gelockt hatte, könnte nach neuerer Einschätzung der Staatsanwaltschaft hingegen "nur" eine einfache räuberische Erpressung im Raum stehen, weil sie vom Einsatz des Messers nichts gewusst haben will und bei der Tatausführung auch nicht mehr anwesend war.

Das Gericht ging gestern mit den Angeklagten deren Lebensläufe durch. Dabei wurde klar, dass beide bislang nicht gerade auf der Sonnenseite gestanden haben. Beide wuchsen ohne Vater auf, beide besuchten eine Förderschule und blieben ohne Berufsausbildung. Der junge Mann will seit Jahren starker Konsument von Amphetaminen (Aufputschmitteln) sein und bezeichnet sich als abhängig.

Die Frau hatte allem Anschein nach besonders viele Verwerfungen zu verkraften gehabt: Ihren leiblichen Vater lernte sie angeblich nie kennen, der Unterbringung bei einer Pflegefamilie mit 14 Jahren wollte sie sich durch mehrere Ausreißversuche entziehen. Schon mit 17 Jahren landete sie in der Obdachlosigkeit, war von der Stadt mehrfach in den Notwohnungen am Franziskanerwasser untergebracht worden, bevor sie zuletzt einen Platz in einer Wohngemeinschaft gefunden hatte. Dort hatte sie von Hartz-IV-Bezügen gelebt.

Mit der schwierigen Vorgeschichte der Angeklagten hat sich auch die am Prozess beteiligte psychiatrische Gutachterin befasst. Sie erstattete der Strafkammer gestern Bericht und ging dabei auf eine von ihr bei der 23-Jährigen diagnostizierte so genannte Borderline-Symp-tomatik ein. Demnach hat die junge Frau unverkennbare Anzeichen einer solchen Persönlichkeitsstörung, die sich durch erhebliche Stimmungsschwankungen, überstürzte Handlungen und depressive Schübe mit Selbstmordgedanken und auch entsprechenden Versuchen bemerkbar macht. Die Angeklagte, der bereits bei früheren Untersuchungen eine leicht unterdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt worden war, hat nach Einschätzung der Gutachterin häufig "viel oppositionelles Verhalten" an den Tag gelegt und "im Leben nicht so richtig Fuß gefasst". Eine verminderte Steuerungs- und damit Schuldfähigkeit bei der Tat erkennt die Psychiaterin bei der Frau aber ausdrücklich nicht.

Auf die Vernehmung der zweiten an der Tat beteiligten jungen Frau, damals erst 15 Jahre alt, wurde vom Gericht nach Einwilligung von Staatsanwalt und Verteidigern verzichtet. Sie war - wie berichtet - zum ersten Prozesstag geladen worden, aber nicht erschienen. Anders als es sich da noch dargestellt hatte, befindet sich die Jugendliche aber nicht auf freiem Fuß, sondern (offenbar wegen eines anderen Deliktes oder wegen einer Bewährungswiderrufung) in Baden-Württemberg in Haft.

Wie Vorsitzender Bösl mit leichtem Schmunzeln mitteilte, hatten sich die Justizbehörden des "Ländles" allerdings nicht in der Lage gesehen, die Jugendliche für eine Zeugenaussage nach Ingolstadt zu befördern - angeblich, weil der betroffenen Justizvollzugsanstalt hierfür kein Fahrzeug zur Verfügung gestanden hatte.

Bernd Heimerl