Ingolstadt
Eine Flut von Klagen

Abgas-Skandal: Im Dezember gingen mehr als 600 Verfahren beim Landgericht ein - das arbeitet am Limit

07.02.2019 | Stand 23.09.2023, 5:54 Uhr
Die Aktenberge stapeln sich in den Zimmern des Landgerichts. Die Richter der Zivilkammern und die Justizangestellten sind durch den Abgas-Skandal massiv belastet. −Foto: Rehberger

Ingolstadt (DK) Am Sitz der Audi AG hat der Abgas-Skandal des Autobauers das Ingolstädter Landgericht voll erreicht. Alleine im Dezember gingen kurz vor der Verjährungsfrist jetzt noch einmal 636 derartige Klagen von wütenden Diesel-Kunden ein. Das sind 400 Prozent mehr an Klagen als sonst in dem Monat üblich. Die Richter arbeiten an der absoluten Kapazitätsgrenze.

Wenn das Bild von einer Klagewelle gebräuchlich ist, dann ist es wohl sogar ein veritabler Tsunami, der da vor dem Jahreswechsel über die Ingolstädter Justiz hinweggefegt ist. Die Folgen werden auch erst in den kommenden Monaten zu spüren sein, zu sehen sind sie jetzt schon. "Die Akten füllen ein Zimmer", sagt Richterin Heike Linz-Höhne zum Beispiel über die beispiellose Klage, die bereits am letzten Oktobertag eingegangen ist: Das einzelne Verfahren, das nun bei der 4. Zivilkammer des Landgerichts anhängig ist, umfasst unglaubliche 2800 Einzelfälle von Dieselkunden, die ihre Ansprüche an einen Kläger, den "Rechtsdienstleister" MyRights, abgetreten haben.
 
Ein Bild vom symbolischen Abladen der Klageschriften auf der Audi-Piazza ging zu jener Zeit auch durch die Medien. Sechs der sieben Zivilkammern des Landgerichts sind mit dem Abgas-Skandal betraut und belastet. Die Verfahren werden reihum nach Eingang zugeteilt. Insgesamt mögen es grob geschätzt 2500 seit Bekanntwerden des Skandals gewesen sein, die am Landgericht landeten. Genaue Zahlen ließen sich wegen der unterschiedlichen Formen der Klage wie gegen Händler oder Hersteller (Audi und VW dominierend, aber auch Skoda und Seat) nicht benennen, sagen Linz-Höhne und ihr Richterkollege Jürgen Häuslschmid. Ein gutes Drittel dürfte inzwischen in Ingolstadt durchverhandelt sein. "Beantragt wird am häufigsten die Rückgabe des Fahrzeugs Zug um Zug gegen Rückzahlung des Kaufpreises."
 
Den Neupreis wird er für einen Gebrauchten aber natürlich nicht sehen, die Linie des Landgerichts sei es, dass sich der Kläger einen Abschlag für die Laufleistung anrechnen lassen müsse. Die Formel lautet: Kaufpreis mal vom Kläger gefahrene Kilometer geteilt durch die Restlaufzeit zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Dabei gehen die Kammern von einer Gesamtlaufleistung des Dieselmotors von 300000 Kilometern aus, von denen der Tachostand letztlich abgezogen wird. Autohändler müssen sich dabei, wie das Oberlandesgericht München schon entschieden hat, die betreffenden Motor-Manipulationen durch die Hersteller nicht zurechnen lassen. Heißt: Sie wussten nichts.
 

In Einzelfällen haben die Kläger in Ingolstadt "klagestattgebende Urteile" erhalten, also gewonnen. Die Fälle seien aber noch nicht rechtskräftig, da Berufung zum OLG eingelegt wurde, oder die Parteien hätten sich nach dem Urteil verglichen. "Die Tendenz zum Vergleich ist durchaus da", sagt Linz-Höhne. Allerdings erst nach der ersten Instanz. "Wir hätten uns von den Herstellern eine andere Vorgehensweise gewünscht, als hier prozessual durchzumarschieren und dann am OLG vergleichsbereit zu sein", sagt Landgerichtspräsidentin Sibylle Dworazik. Das hätte ihrem Haus viel Arbeit erspart - und sie wird kaum weniger.
 
Durch die Klageflut ("Da sind Akten mit eineinhalb Metern Höhe dabei") kommen neben den Richtern auch die Justizangestellten an ihre Grenzen. Als "Nothilfe" wurde eine Mitarbeiterin zur Sachbearbeitung vom Amtsgericht abgezogen. Unter dem selben Label kommt nun auch eine Richterstelle, die von den drei Amtsgerichten im Bezirk vorübergehend abgezwackt wird. "Sollte hier seitens des zuständigen Justizministeriums keine personelle Aufstockung erfolgen, wird sich der hohe Verfahrensstand unmittelbar auf die Erledigungsdauer auswirken", mahnt Dworazik. Sie hat schon einen Brandbrief nach München gesendet.
 

 

Christian Rehberger