Ingolstadt
"Erschießt mich, ich will sterben!"

Lebensmüde 39-Jährige mit einer Machete wollte sich am Neujahrstag im Klinikum von Polizisten töten lassen

14.09.2020 | Stand 23.09.2023, 14:08 Uhr
Vergoss viele Tränen auf der Anklagebank: die 39-jährige Angeklagte mit ihrer rechtlichen Betreuerin und Anwalt Günter Reisinger am Ingolstädter Landgericht. −Foto: Hammer

Ingolstadt - Der Fall klingt auf den ersten Blick extrem krass.

 

Da kommt eine Dauerpatientin des Ingolstädter Klinikums mit einer Silvesterrakete und einer 60 Zentimeter langen Machete auf die Station des Krankenhauses, aus der sie zwei Tage vorher wohl im Unfrieden entlassen worden war. Sie versetzt die Pflegekräfte allein damit in Angst und Schrecken, zündet dann den Feuerwerkskörper im Gebäude an den Aufzügen, löst den Brandalarm aus und geht danach mit der riesigen Klinge in der Hand auf eine Streifenbesatzung der Polizeiinspektion los, die sich nur um den Feueralarm kümmern wollte. Die bedrohten Beamten zücken ihre Waffen, und es ist wohl nur ihrer guten Ausbildung und vielleicht auch einer glücklichen Fügung zu verdanken, dass sie die brenzlige Situation doch noch lösen konnten, mit Pfefferspray statt zu feuern - wie es die Frau mit dem Messer offenbar beabsichtigt hatte. "Erschießt mich, ich will sterben! ", hatte sie im Eingangsbereich der Notaufnahme mehrfach gebrüllt.

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Ein Dreivierteljahr später klingen diese Worte noch immer erschütternd, da sich das Ingolstädter Landgericht mit dem Vorfall beschäftigen muss und alles aufrollt. "Ich kann mir vorstellen, dass es ein Hilfeschrei war", sagt die 39-jährige Ingolstädterin, der das alles zur Last gelegt wird. "Ein letzter Versuch, es sieht mich jemand, hält mich auf. " Deshalb habe sie die Machete mitgenommen, sie auf dem Weg ins Klinikum gar nicht versteckt, sie im Bus präsentiert, dann auch auf der Station - dorthin, wo sie eigentlich wieder stationär eingewiesen werden wollte. "Aber ich konnte es nicht selbst. Ich war innerlich zerrissen, deprimiert. Ich war lebensmüde. " Sie habe selbst aber niemanden verletzten wollen, das beteuert die Frau mehrfach. Und auch die Polizisten berichten von eher Machetengefuchtel als einem gezielten Angriff. Dennoch "extrem bedrohlich", sagt einer der Polizisten der 5. Strafkammer um den Vorsitzenden Richter Gerhard Reicherl. "Es war kurz davor, dass man es nicht anders lösen kann" - als durch Schüsse. Ein Satz wie "Ich bringe euch um", sei aber wirklich nie von ihr gefallen.

Fast eine Stunde trägt die Angeklagte einen Brief vor, den sie jetzt im August im Bezirkskrankenhaus Taufkirchen aus der einstweiligen Unterbringung heraus geschrieben hat und den sie nun mit zitternden Fingern in den Händen hält. Die Stimme bebt ebenso, überschlägt sich teilweise. Es muss was raus. "Ich bin kein schlechter Mensch! ", sagt sie später mehrfach und heult hemmungslos, als ihre vier vorherigen Verurteilungen detailliert vorgetragen werden. Sie ähneln sich im Kern und lassen eine Steigerung erkennen. Immer geht es um Ärger und Übergriffe in irgendwelchen Einrichtungen oder im Klinikum, wo die Frau nun schon über Jahre regelmäßige Patientin war. Auf unterschiedlichen Stationen. Sie bringt eine lange und wohl intensive Drogenvergangenheit mit - die noch nicht im Prozess detailliert behandelt wurde - und kam oft schwer berauscht zum Entzug oder eben zuletzt auf die akut beschützende psychiatrische Station, wo mit Ersatzstoffen gearbeitet wurde.

"Ich war stabil", sagt sie über den vergangenen Dezember. Doch dann sollte sie wegen eines angeblichen sexuellen Übergriffs ("Brustgrapscher") auf eine Pflegerin von der Station fliegen. Die Substitution wäre weg. "Ich wollte mich umbringen, wenn ich wieder Drogen konsumiere. Ich kann einfach nicht mehr", sagt sie. Sie habe dann alle Hoffnung verloren.

Die angeblich "intensive Schwestern-Patienten-Beziehung" brachte offenbar jede Menge wilder Gerüchte im Krankenhaus - wie mehrere Mitarbeiterinnen dem Gericht berichteten - mit sich. Zurück blieben nicht nur wegen des Neujahrtags aber auch sehr mitgenommene Pflegekräfte. Eine Zeugin kann vor Gericht ebenfalls die Tränen nicht zurückhalten, als sie über den Tag ( "So etwas noch nicht erlebt") und den Dienst mit der "sehr schwierigen Patientin" berichtet. So wird die Angeklagte von fast allen bezeichnet. "Man hat nie gewusst, wie sie reagiert. " Drohungen und auch Suizidankündigen seien immer wieder gekommen, Stühle geflogen.

Immer wieder habe die Frau über die Jahre auch zwangsweise fixiert werden müssen. Diese schwerwiegende Maßnahme nach dem Angriff auf die Polizisten an Neujahr hatte damals ein Amtsrichter abgesegnet. Beim Fixieren soll es dabei auch zu Übergriffen gekommen sein. Die Angeklagte habe Kopfstöße verteilen wollen. "Ich war in Panik, kämpfte um mein Leben", erklärt sie. Bei den Polizisten entschuldigt sie sich jeweils persönlich und ausdrücklich: "Es tut mir leid, dass ich Sie in diese Situation gebracht habe. "

Die zentrale Frage des Falls wird am 21. September angepackt, wenn der Prozess auch enden soll. "Das Wichtigste in dem Verfahren ist", so Richter Reicherl, "dass wir uns anschauen, wie es mit Ihnen weitergeht. " Die Angeklagte braucht dringend weiterhin Hilfe, das ist sicher keine Frage.

DK

In der Regel berichten wir nicht über (mutmaßliche) Selbsttötungen oder Suizidversuche – außer die Tat erfährt durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Sollten Sie selbst das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können. Weitere Hilfsangebote gibt es beim Krisendienst Psychiatrie Oberbayern unter der Telefonnummer 0180-6553000 sowie der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

Christian Rehberger