Ingolstadt
Der nette Nachbar mit dem Waffentick

Polizei stellt nach den Todesschüssen in Ingolstadt 15 Gewehre sowie fünf Pistolen und Revolver bei 43-Jährigem sicher

07.10.2013 | Stand 02.12.2020, 23:35 Uhr
Tatort Klein-Salvator-Straße: Gegen 19 Uhr fallen dort Schüsse. Ein 48-jähriger Audi-Mitarbeiter stirbt. −Foto: Ulli Roessle

Ingolstadt (DK) Die Menschen in der Stadt sind fassungslos. Wieder ist es in Ingolstadt zu einem Blutvergießen gekommen, zwei Männer starben. Der eine stammt aus Großmehring, 43 Jahre alt, zuletzt als Sicherheitskraft tätig – der mutmaßliche Täter. Der zweite war fünf Jahre älter, Audi-Beschäftigter und Ex-Ehemann der Frau des anderen. Warum musste er sterben, mit neun Kugeln in Kopf und Körper, einer Hinrichtung gleich? Und warum fuhr der 43-Jährige anschließend auf die Polizeiwache, um sich dort vor den Augen zweier Beamter zu erschießen? Es gibt viele Fragen, aber bisher nur wenige Antworten. Wie die Leute in der Stadt suchen auch die Ermittlungsbehörden nach plausiblen Erklärungen.

Raimund H. war ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch, sagen die Nachbarn des mutmaßlichen Todesschützen. „Der hätte dir sein letztes Hemd gegeben, wenn es hätte sein müssen“, urteilt ein Mann aus Großmehring. Dort war H. seit 2006 gemeldet, zugezogen aus Ingolstadt-Gerolfing. Seit knapp vier Jahren lebte er mit seiner Ehefrau und den beiden Stiefkindern in einer kleinen Wohnstraße im Osten der Gemeinde. Ein Nachbar wunderte sich noch, als der Mann bei seinem Einzug haufenweise Gewehre ins Haus trug. „Das waren ungefähr 20, ich habe sie für Dekostücke gehalten“, erzählt er. Doch es waren scharfe Waffen, die Polizei stellte jetzt 15 Gewehre sowie fünf Pistolen und Revolver sicher.

Alles legal indes. Die Waffenbesitzkarte des 43-Jährigen ist ausgestellt vom Landratsamt Pfaffenhofen, vermutlich weil H. in jungen Jahren in Manching lebte. 1985 hatte er dort seinen Hauptschulabschluss gemacht, im selben Jahr begann er seine Ausbildung bei Audi, wo er als Energieanlagenelektroniker arbeitete. Zuletzt war er aber krankgeschrieben, heißt es in seinem Umfeld, angeblich soll der 43-Jährige unter psychischen Problemen gelitten haben. War das der Grund für sein Ausrasten?

Die Ordnungsbehörde des Landkreises Eichstätt hatte erst Anfang 2013 die Zuverlässigkeit des Großmehringers überprüft, so wie das Gesetz es für Waffenbesitzer regelmäßig vorschreibt. Gibt es Vorstrafen? Liegt bei der Kommune etwas gegen ihn vor? Bewahrt er die Waffen ordnungsgemäß auf? „Es hat damals keine Auffälligkeiten gegeben“, fasst Manfred Schmidmeier vom Landratsamt das amtliche Ergebnis zusammen. Nur eines fällt auf: Die Zahl der jetzt sichergestellten Gewehre und Pistolen ist eine andere als die der behördlich registrierten Waffen. Ob es mehr oder weniger sind, lässt Schmidmeier „wegen des laufenden Verfahrens“ offen.

Zuletzt hatte Raimund H. aber doch ein Strafverfahren am Hals. Er soll eine Freundin seiner Stieftochter sexuell belästigt haben und stand deshalb vorige Woche in Ingolstadt vor Gericht. Das Verfahren endete mit einem Freispruch, „nach dem Grundsatz, wonach im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden ist“, erläutert Richter Christian Schilcher. Das jugendliche Opfer hatte sich so in Widersprüche verwickelt, dass selbst die Staatsanwältin die Vorwürfe fallen ließ.

Bekannt war H. als Ordner beim ERC Ingolstadt. „Für uns ist er immer der erste Ansprechpartner gewesen“, sagt die Fanbeauftragte Petra Vogl. „Immer dann, wenn wir Fahrten mit Sonderzügen organisiert haben, war er mit dabei.“ Bis zu seiner Erkrankung. Erst soll er Probleme mit den Augen und dann Depressionen bekommen haben. „Im Juni hat er mir mal geschrieben, dass es ihm gar nicht gut geht“, erinnert sich Vogl. „Er ist dann nicht mehr auf die Füße gekommen.“ H. sei ein „angenehmer und immer korrekter Mensch gewesen“, sagt sie. Träume hatte er bis zuletzt, zum Beispiel von einem Haus in Dänemark, sagen Bekannte. In seinem Garten weht eine rot-weiße Flagge.

Weshalb drehte der 43-Jährige jetzt durch? Am Sonntag gegen 17.30 Uhr soll es einen lautstarken Streit zwischen ihm, seiner Frau und seinen Schwiegereltern gegeben haben, berichten Nachbarn. H. stürmt mit zwei Waffen davon, einem Revolver Smith & Wesson vom Typ Magnum .357 und einer italienischen Pistole Tanfoglio .45, beides Kaliber mit erheblicher Durchschlagskraft. Er fährt erst zur Mutter des Mädchens, das er angeblich sexuell belästigt haben soll, bedroht die Frau und schießt vor ihr in den Boden. Die 37-Jährige bleibt unverletzt, erleidet jedoch einen Schock. Gegen 19 Uhr taucht H. beim Vater seiner Stiefkinder in Ingolstadt-Ringsee auf. Dort soll er das Feuer eröffnet haben. Die tödlichen Schüsse kamen ausschließlich aus der Tanfoglio-Pistole und trafen den 48-Jährigen aus nächster Nähe: sechsmal in den Kopf, dreimal in Oberkörper, Schulter und Knie. Das Opfer hatte keine Überlebenschance.

H. braust mit seinem VW-Bus Richtung Innenstadt davon, direkt zur Polizei am Omnibusbahnhof. Hofft er, man werde ihn erschießen, wenn er dort bewaffnet auftaucht, um sein Leben nicht selber beenden zu müssen? Mit dem schweren Revolver schießt er die Tür zum Sicherheitsbereich auf und läuft ins Treppenhaus. Im selben Moment eilen zwei Polizisten herunter, alarmiert durch einen Notruf auf dem Weg zum Tatort in Ringsee. „Legen Sie die Waffe weg“, fordern sie den 43-Jährigen auf. H. hält inne, sackt auf einer Treppe in sich zusammen – und jagt sich mit der Magnum eine Kugel in Kopf.