Hilpoltstein
"Wo Musik ist, da will ich auch sein"

Tausendsassa Reiner Hertel

04.01.2019 | Stand 23.09.2023, 5:33 Uhr
Voll in seinem Element: Reiner Hertel braucht zum Musizieren keine Noten. Das Akkordeon macht die Melodie und er schwurbelt mit seiner Klarinette einfach so dazwischen. −Foto: Bleisteiner

Wenn es in Hilpoltstein um Musik geht, ist der Name Reiner Hertel nicht weit. Der 57-Jährige ist ein Tausendsassa - viel beschäftigt, vielseitig interessiert. Ein Nachmittag bei Kaffee und Eis über Hobbys, seine größte Leidenschaft und wann er bei Auftritten den Flattermann bekommt.

Ich wurde von meinem Vater am Stammtisch verkauft", sagt Reiner Hertel, "auf dem Dorf war das normal." Mit elf Jahren. Ungefragt. Einfach dem Dirigenten des Reichenbacher Musikvereins angeboten. Auch das Instrument steht da schon fest: Klarinette. Also muss Reiner Hertel Klarinette lernen - drei Jahre lang. Ungefragt. Nicht gerade das Wunschinstrument eines junges Mannes. Dann steht er zum ersten Mal mit der Original Reichenbacher Blasmusik auf der Bühne. Es folgen Schützenfeste, Kirchweihen, Festzelte. Mal Klarinette, mal Altsaxofon, mal die zweite Stimme singen - bis zum 20. Lebensjahr, bis zur Bundeswehr.

Der heute 57-Jährige sitzt in der Küche seines Hauses in Hilpoltstein. Lederhose, strahlend gelbes Hemd und der gezwirbelte Bart. Zu Reiner Hertel passt das, zu Reiner Hertel gehört das. Auch nachmittags um drei. Kaffee und ein Schüsselchen Eis stehen auf dem Tisch. Wie jeden Nachmittag. Ein Ritual. Ein bisschen wie Urlaub. Irgendein rotes Eis ist es meistens.

Auch wenn Reiner Hertel kein gebürtiger Hilpoltsteiner ist, so ist er doch einer der Engagiertesten hier. "Er liebt die Stadt, das spürt man", sagt die Hilpoltsteiner Kulturamtsleiterin Kathrin Blomeier. Eine immer gut gelaunte Frohnatur, die Positives ausstrahlt, andere Menschen einfangen und mitreißen kann, eine Bereicherung für die Stadt - das ist Reiner Hertel für Hilpoltstein. Von seinem außergewöhnlichen Einsatz ist Blomeier beeindruckt. Hertel bringt sich gerne ein und gestaltet mit, er bietet seine Hilfe immer wieder an und wird nicht müde, noch eine Aufgabe mehr zu übernehmen: Er ist Burg- und Wanderwegpate, kümmert sich um eine Plakattafel und ist beim Mittelalterfest aktiv.

Seit gut fünf Jahren ist Reiner Hertel im Ruhestand. Mehr Zeit, um Hobbys auszuleben - Musik, Handwerken, ehrenamtliches Engagement, umeinanderwuseln. Aber eigentlich hat er nach seiner "Wie die Jungfrau zum Musizieren gekommen"-Geschichte gar nicht mehr so viel zu erzählen, sagt er und erzählt dann doch weiter.

1982 verlässt Reiner Hertel das 600-Seelen-Dorf Reichenbach im Landkreis Kronach und geht nach Roth. "Ich bin fast vom Glauben abgefallen, weil es in der Kreisstadt keine Blaskapelle gab." Die Stadtkapelle in Spalt ist Hertel zu groß, da geht er ja unter und er will doch eigentlich ein bisschen aus dem Schatten heraustreten. Fast fünf Jahre tingelt er nach Rückersdorf, um dort in einer Big Band mitzuspielen. Etwas saxofonlastig, ein anderes Extrem, das richtig Spaß macht. Trotzdem reißt der Kontakt zur heimischen Blaskapelle nicht ab. Hertel ist bis heute Mitglied, wenn auch passiv. In den letzten 30 Jahren ist er immer zum Reichenbacher Oktoberfest zurückgekehrt - bei Musik aus Bayern drehen die Leute ab.

Ganz ohne Musik kann Hertel auch als Hubschraubermechaniker in der Kaserne nicht. Dort ist er Teil einer Gospelband mit Chor und 1992 tritt er auf Nachfrage seines Freundes Siegfried Tretbar, den er seit der Grundausbildung kennt, den Frankenbeidl bei. Fränkische Volksmusik, aber pfiffig, nicht nur Humdada. Akkordeon, Gitarre, Klarinette.

Alle drei - Reiner Hertel, Siegfried Tretbar und Gerhard Schwing - singen. Hertel übernimmt die dritte Stimme. Damit tut er sich zum Glück leicht. Sein zweiter Vorname ist Dreiklang, sagt er. "Ich horch' meinen Part einfach runter und wenn es sich nicht gut anhört, werd' ich schon mal pelzig." Die dritte Stimme einfach runterhorchen ist für Reiner Hertel genauso selbstverständlich wie ohne Noten zu spielen. Er weiß ja wie's geht. Das Akkordeon macht die Melodie, Hertel schwurbelt mit seiner Klarinette dazwischen. Musik hat er eigentlich immer im Kopf - besser als Stimmen, wie er selbst findet. Hertels Blick wandert durch die Küche und bleibt am Radio hängen. Das läuft hier im Haus nie, die Ausnahme ist das Autoradio. Hertel singt, summt - er hat die Musik ja im Kopf.

Wenn Reiner Hertel über Musik spricht, mag einem nicht immer ganz klar sein, um was genau es geht - Saxofon spielt in B-Dur, die Klarinette in Es-Dur, aber die Art wie Hertel von der Musik erzählt, ist ansteckend, begeistert und lässt manchmal staunen. Auch ein gewisser Witz steckt dahinter, über den er selbst gerne lacht.

1997 zieht Reiner Hertel nach Hilpoltstein. Dort lernt er die Burgfest-Fanfarenspieler kennen. Dazu fällt ihm nur eines ein: vogelwild. Hertel kauft einem anderen die Trommel ab, wird Taktgeber der Truppe, steigt nach und nach auf - bis zum musikalischen Leiter. Ab Februar holt Hertel die Farnfarenspieler aus dem Burgfest-Dornröschenschlaf, damit bis zum August wieder alles klappt. 90 Prozent sind Laien, "das sind manchmal schon belastende Momente", sagt der 57-Jährige und lacht. Aber es geht ja auch ums Gesellige.

Auf die ganz große Bühne will Hertel gar nicht. Die handgemachte Musik, die er seit 2006 mit Benjamin Haußner als die Hundsgrübbl macht, braucht das auch nicht. Es geht ohne viel Technik. Instrumente und Gesang.

Vor einem Auftritt ist er nicht nervös, aber das ist tagesformabhängig. "Bei schwierigen Liedern mit gruseligen Tonarten bin ich träge, nicht mehr so beweglich", sagt Hertel. Als wäre Musik eine Sportart. Schlechte Darbietungen merkt sich der 57-Jährige erst gar nicht. Quietschende Klarinette, falsche Töne - davon lässt sich Hertel nicht aus der Ruhe bringen. Das hat er aber erst über all die Jahre gelernt. Entweder macht er selbst einen blöden Spruch darüber oder das Publikum. Dann geht's weiter. Außer im Advent, in der Kirche, wenn alles so still und besinnlich ist, da bekommt auch Hertel den Flattermann.

Es ist nicht nur das musikalische Handwerk, für das Hertel ein Händchen hat. Er dreht sich um, blickt durch die geöffnete Küchentüre nach draußen in den Flur. Die Garderobe aus hellem Holz ist selbst gemacht. Der Holzfußboden davor ist in Fischgrät-Optik verlegt. Laut Hertels Schwager viel zu kompliziert und langwierig. Für Hertel eine Herausforderung, die mit normalem Geschick zu bewältigen ist. "Die Zeit, die es dauert, ist egal. Das Ergebnis zählt." Auch Musikinstrumente baut Hertel selbst - Kontrabass aus Malkübeln, Trommeln und Didgeridoos aus heimischen Hölzern wie Buche, Eiche oder Ahorn.

Hertel wippt mit dem Fuß, summt vor sich hin, sein Blick schweift ab, durch das Küchenfenster nach draußen. Dienstag, Donnerstag, Freitag und Samstag gehe ich laufen, sagt Hertel. Am Mittwoch Pilates. Manchmal würde er sich selbst als faul bezeichnen - wenn er seine Wochenkilometer vernachlässigt. Zwölf bis vierzehn Kilometer am Tag, 50 in der Woche, 165 im Monat. Hertel führt ein Laufbuch - seit 20 Jahren. Wann er läuft, wie weit und lange und mit welchem Puls, alles ist darin notiert. Alles könnte er nochmal genau nachlesen, tut Hertel aber nie. Prinzipiell wäre das Buch wurscht, aber er bildet es sich halt ein. "Ich bin eben eine kleine bürokratische Beamtenseele."

Seit drei oder vier Jahren, seit dem Ruhestand, betreibt Hertel den Laufsport wieder intensiver. Im vergangenen Jahr sind es 1800 Kilometer, heuer werden es vermutlich 2200. Als Kind war Reiner Hertel eher unsportlich. Bei den Bundesjugendspielen hat er nie eine Urkunde bekommen - heute kann er darüber lachen. Mit dem Sport hat er erst bei der Bundeswehr angefangen, da gehört körperliche Fitness schließlich dazu, vor allem für die berüchtigten 5000-Meter-Läufe. Es folgen Marathon und Langstrecken, wie der 100-Kilometer-Lauf in Biel in der Schweiz und der Hilpoltsteiner Challenge. Da läuft es gut, obwohl Hertel zuvor nie das Radfahren trainiert. "Ich hatte echt Schiss, aber das war vergleichsweise witzig."

Zwischendurch löffelt Hertel immer wieder aus dem Schüsselchen, das Eis darin ist mittlerweile geschmolzen. An der Wand über dem Esstisch hängen viele Familienbilder. Reiner Hertel beginnt von seinen beiden Kindern zu erzählen. Stefan ist 35 Jahre alt und Rebecca 31. Ganz so musikbegeistert wie der Vater sind die beiden nicht. Rebecca lernt als Kind ganz klassisch Klavierspielen. Stefan ist zwar musikalisch begabt, hat aber keine Lust, ein Instrument zu lernen. Dazu zwingen wollte Reiner Hertel sie nie. Die Hertel-Kinder sind eher wasseraffin und in der Hilpoltsteiner Wasserwacht aktiv. "Irgendwann hat's der Große doch noch selbst gemerkt", sagt Hertel, und ist den Burgfest-Fanfaren beigetreten. Immerhin hat sich Reiner Hertels Enkelin mit fünf Jahren schon fürs Klavierspielen entschieden.

Ganz bestimmt gibt es über Reiner Hertel, der eigentlich nichts zu erzählen hat, noch viel mehr zu erzählen. Eines ist jedenfalls gewiss: Über eine musikalische Auszeit hat Hertel noch nie nachgedacht und die wird es auch nicht geben. "Wo Musik ist, da will ich auch sein", sagt er. Aber jetzt muss der 57-Jährige erstmal los - zum Laufen. Schließlich müssen auch diese Woche die 50 Kilometer geschafft werden.

Luisa Riß