Würzburg
Warum Karpfen fett machen soll

Würzburger Medizinhistoriker beschäftigt sich mit der exzessiven Leibesfülle früher und heute

11.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:06 Uhr
Ralph Alexander Pyrges vom Würzburger Institut für Medizingeschichte beschäftigt sich seit drei Jahren mit heutigen und historischen Vorstellungen von Fettleibigkeit. −Foto: Foto: Pat Christ/epd

Würzburg (epd) Heutzutage gilt Übergewicht und Fettleibigkeit per se als Problem - egal, ob die Betroffenen damit gesundheitliche Probleme haben oder nicht.

Das war noch vor ein paar Jahrhunderten anders, weiß ein Würzburger Medizinhistoriker.

Wird einfach zu viel gegessen? Ist es Willensschwäche? Oder woher kommt es, dass manche Menschen unheimlich dick sind? Solche Fragen treiben nicht nur moderne Mediziner um. Selbst in der Antike machte man sich Gedanken über das Phänomen der exzessiven Leibesfülle. "Welche Ursache das hat, was wir heute Adipositas nennen, dazu gab es in den vergangenen Jahrhunderten ganz unterschiedliche Vorstellungen", sagt Ralph Alexander Pyrges vom Würzburger Institut für Medizingeschichte. Seit drei Jahren beschäftigt sich der gebürtige Bremer mit heutigen und historischen Vorstellungen von Fettleibigkeit.

Spannend ist für ihn, dass sich bestimmte Ansichten quer durch die Jahrhunderte ziehen. So existierte schon in früheren Zeiten das Vorurteil, dass dicke Menschen faul und träge seien. Auch dachte man schon lange, dass Adipositas entweder mit zu viel oder der falschen Nahrung zu tun hat. Grundlegend unterschiedliche Ansichten existieren jedoch über die Ursachen.

So wurde im 16. Jahrhundert, als die Medizin noch auf der Säftelehre basierte, das Phlegma für Fettleibigkeit verantwortlich gemacht. Den Begriff Phlegma zu übersetzen, ist nicht ganz einfach. Am ehesten trifft es das Wort "Schleim". Der Humoralpathologie zufolge hatten extrem beleibte Menschen entweder zu viel "Schleim" im Körper oder sie aßen "Schleimiges". Womit nicht Haferschleim oder dergleichen gemeint war. "Schleimig" war zum Beispiel alles, was mit Tümpeln zu tun hatte: zum Beispiel Enten, Gänse oder Karpfen. Aber auch Soßen und Suppen, dachte man, konnten fettleibig machen.

Als Therapie wurden Pyrges zufolge Nahrungsmittel wie Zwieback oder Petersilie verordnet. Behandelt wurden Fettleibige im 16. Jahrhundert nicht explizit wegen ihres gewaltigen Körperumfangs: "Sondern dann, wenn sie ihren standesgemäßen Pflichten aufgrund ihrer Beleibtheit nicht mehr nachkommen konnten. " Übergewicht an sich war noch nicht pathologisiert. Doch wenn ein König so dick war, dass er nicht mehr leichtfüßig tanzen konnte, oder wenn ein Adeliger wegen seines Leibesumfangs nicht mehr zur Jagd gehen konnte, dann versuchte man, das Phlegma abzubauen.

Darin sieht der Geschichtswissenschaftler einen der größten Unterschiede zu unserer Zeit. Anders als früher ist sich der heutige Mensch der unablässigen Gefahr bewusst, dick werden zu können. Deshalb haben viele Menschen eine Waage zuhause und achten genau darauf, was sie den Tag über zu sich nehmen: "Und abends fragt man sich dann, ob man sich das Stück Schokolade noch leisten kann. "

Ob Adipositas heute, anders als im 16. Jahrhundert, pandemische Ausmaße hat, ist mangels historischer Statistiken eine kaum zu beantwortende Frage. Zu vermuten steht, dass die Menschen aus der Unterschicht in der frühen Neuzeit im Vergleich zur damaligen Oberschicht eher seltener exzessiv dick waren. Wobei sich kaum Quellen finden, die sich auf die Unterschicht beziehen. Geschweige denn, dass einfache Menschen über ihre Korpulenz und eventuelle Abnehmversuche geschrieben hätten.

Eine Grafik allerdings erregt unter Forschern, die sich mit Adipositas befassen, einiges Aufsehen: der Kupferstich "Die dicke Seyllerin", der etwa um 1612 entstanden sein soll. Dem Begleittext zufolge wog die 36-Jährige über 200 Kilo. Bemerkenswert: Im Text wird eigens betont, dass sie "frisch und gesundt" sei. Interessant ist für Pyrges, dass sich das Thema Adipositas nach der Aufspaltung der Medizin durch alle Teildisziplinen zieht. Im 18. Jahrhundert richtete sich der Blick der Ärzte mehr auf die Fasern und Nerven des Menschen. Die seien bei Fettleibigen zu locker. Die Endokrinologen zeigten Zusammenhänge mit den Drüsen auf, die Neurologen glaubten, im Hirn ein Gewichtsregulationszentrum gefunden zu haben und Analytiker wiesen darauf hin, dass Kinder, die nicht genug Liebe erhalten haben, dazu neigen, die innere Leere mit Nahrung zu füllen. Ralph Alexander Pyrges wertete für seine "Geschichte der Beleibtheit" um die 1500 Quellen und Bücher aus - angefangen von antiken Werken bis hin zu moderner Forschungsliteratur.