Der Tag des Terrors - Protokoll eines Augenzeugens

Gerd Müller aus Roth arbeitete als EDV-Spezialist beim Boston-Marathon und schildert seine Eindrücke vom Attentat

17.04.2013 | Stand 03.12.2020, 0:15 Uhr
Gerd Müller −Foto: privat

Hilpoltstein (HK) Der Bombenterror am Montag in Boston: Gerd Müller aus Roth hat das schreckliche Ereignis aus nächster Nähe erlebt. Der Zeitmess-Spezialist, der für die Veranstalter des Boston-Marathons arbeitete, überstand den Anschlag unverletzt und schildert seine Eindrücke im Internet-Blog.

„Normal schreibe ich in meinem Blog keine Beträge fürs Tagebuch. Mein Blog dient eigentlich nur für mich als eine Art Merkzettel für technische Details. Aber ich habe mich entschlossen, den 15.04.2013 für mich ebenfalls zu dokumentieren.

6.15 Uhr: Aufstehen! Das Wetter verspricht gute Zeiten und viele Zuschauer.

7.00 Uhr: Nach einem kurzen Stopp beim Donut-Laden, in dem ich mir etwas fürs Frühstück besorgt hatte, treffe ich im „Büro” ein. Unser Arbeitsplatz liegt im Fairmont Plaza am Copley Platz und ist damit nur ein paar Minuten weg vom Ziel. Ich bin wie gewöhnlich etwas nervös.

9.00 Uhr: Nach den üblichen Vorbereitungen geht es los. Um 9 Uhr starten die ersten Teilnehmer, 9.17 Uhr die Rollstühle und Handcycles, 9.22 Uhr die Elite der Frauen.

10.00 Uhr: Start Männerelite und Hauptfeld. Ab jetzt beginnt mein eigentlicher Job. Ich kümmere mich zum einem darum, dass Angehörige eine SMS bekommen, sobald ein Teilnehmer die 10-Kilometer-, Halbmarathon-, 30-Kilometer- oder Zielmarke passiert, und um die Ergebnisse im Internet. Für die SMS-Alarmierung haben sich so viele registriert wie noch nie. Aber ich ahne nicht, dass wir am Ende des Tages noch mehr als geplant verschicken werden.

11.58 Uhr: Die erste Frau im Ziel. Alles läuft wie geschmiert.

12.10 Uhr: Der erste Mann im Ziel. Wir haben Zugriffe und Traffic auf der Internetseite wie noch nie. Auch jetzt ahne ich nicht, dass es noch mehr werden soll.

12.20 Uhr: Alle Top-Ten sind im Ziel. Wie üblich nimmt der Stress nach dem Zieleinlauf der Topläufer ab. Der „Alltag” beginnt. Immer noch läuft alles optimal.

Zwei Rother in Boston

Zwei Männer aus dem Landkreis Roth sind am Montag zu Zeugen des schrecklichen Bombenattentats beim Boston-Marathon geworden: Neben Gerd Müller (Foto), der das Rennen als EDV-Spezialist für die Zeitnahme begleitete, erlebte Dirk Eckardt aus Eckersmühlen das Rennen sogar als aktiver Teilnehmer. Wie Müller dürfte auch Eckardt den Anschlag unverletzt überlebt haben. Telefonisch war er zwar auch gestern nicht zu erreichen. Der Blick in die Ergebnisliste lässt jedoch den Schluss zu, dass dem Läufer aus Roth nichts passiert ist. Denn er überquerte die Ziellinie bereits nach 2:55 Stunden – und hatte damit den Bereich der Bombenexplosionen schon eine Stunde vorher verlassen. Auch die Leichtathletikabteilung der TSG Roth gab mittlerweile Entwarnung, unter den Opfern in Boston waren nach bisherigen Ermittlungen keine Deutschen.

14.30 Uhr: Nachdem alles wie von selbst läuft, melde ich mich für ein paar Minuten bei den Kollegen ab. Ich will das übliche Zielbild machen. Also mache ich mich auf den Weg, um kurz vor der Finishline ein Bild in Richtung Ziel zu machen.

14.40 Uhr: Nach zig Sicherheitskontrollen habe ich mir einen Punkt zum Fotografieren rausgesucht. Er liegt ein paar Meter von der Finishline entfernt, genau gegenüber der Stelle, wo später Bombe Nummer 1 hochgehen wird.

14.42 Uhr: So, zwei Fotos gemacht. Dieses Mal bleibe ich nicht wie üblich ein paar Minuten dort, sondern will lieber wieder zurück. Ich will den SMS-Versand und die Internetseite nicht so lange aus den Augen lassen.

14.50 Uhr: Die Bomben gehen hoch. Ich treffe zur gleichen Zeit wieder im Büro ein.

14.52 Uhr: Wir bekommen einen Anruf: Das Ziel ist zu, Bomben explodiert, die Polizei übernimmt. All unsere Systeme laufen und wir kapieren tatsächlich erst beim zweiten Anruf den Ernst der Lage. Unsere Systeme laufen weiter.

15.00 Uhr: Die ersten Augenzeugen kommen rein und erzählen vom gewaltigen Knall.

15.05 Uhr: Ich spreche kurz auf die Mailbox meiner Frau und rufe meine Eltern an. Sie sollen wissen, dass uns nichts passiert ist.

15.10 Uhr: Wir beraten im Team kurz, was wir tun können und entscheiden, dass wir die Systeme so lange wie möglich laufen lassen und die SMS-Benachrichtigung auf 35 und 40 Kilometer ausdehnen.

15.15 Uhr: SMS-Nachrichten sind umgestellt. Wir schicken von allen Punkten. Das heißt, überquert ein Teilnehmer unsere Systeme, bekommen die Angehörigen Nachrichten.

15.20 Uhr: Ich ahne, dass die Zugriffe auf die Ergebnisseite im Internet gewaltig steigen. Es ist neben den SMS-Nachrichten die einzige Quelle für Angehörige, um sich zu erkundigen, wo ihr Läufer ist. Also aktivieren wir sämtliche Reserven.

15.30 Uhr: Die Zugriffe auf die Internetseite steigen und steigen. Wir werden am Ende feststellen, dass die Spitze beim Doppelten des Topwertes von 12.20 Uhr lag.

Nach 15.30 Uhr: Langsam kommen wir zum Nachdenken und begreifen, was passiert ist. Es kommen zwar immer noch Anfragen zu Teilnehmerzahlen (wie viele waren am Start, wie viele vor 14.50 Uhr im Ziel), aber viel können wir nicht mehr tun. Trotzdem bleiben wir in Bereitschaft am Platz. Nebenher geht der Sturm von Facebook-Anfragen, SMS-Nachrichten, Mails los. Ich bin jetzt noch von den Socken, wie viele sich nach meinen Kollegen und mir erkundigt haben. Vielen Dank dafür! Eine Zeit lang machen wir nichts anderes, als all die Fragen zu beantworten. Auf dem Fernsehbildschirm, auf dem wir wie üblich das Rennen verfolgen, laufen in einer gefühlten Endlosschleife die Bilder vom Anschlag. Unter anderem wird berichtet, dass eine weitere Bombe in unserem Hotel hochgegangen sein soll. Die Tatsachen vermischen sich mit Geschichten. Irgendwann drehen wir den Kasten ab.

19.20 Uhr: Wir packen zusammen und überlegen, wo wir etwas zum Essen bekommen. Unser Team bleibt im Hotel und isst in der Hotelbar. Man merkt allen den Schock noch an. Wir reden viel über das, was passiert ist und welche Konsequenzen das wohl haben wird. Irgendwann verlassen wir das Hotel und kämpfen uns durch eine völlig abgeriegelte Stadt. Unser normaler Weg ist gesperrt. Überall Landespolizei, Bundespolizei, Swat, FBI, US Army, ATF . . . Blaulicht ohne Ende. Die jeweiligen Hotels dürfen nur die tatsächlichen Gäste betreten. Mein Hotel liegt ein paar Meter weg vom Geschehen. Obwohl vor dem Hotel alles gesperrt ist, schieben zwei schwerbewaffnete Polizisten in der Lobby Wache. Ich komme direkt in mein Zimmer und schlafe innerhalb von Minuten ein.

Am nächsten Tag wache ich auf und finde wieder viele Nachrichten auf meinem Handy. Die Interviewanfragen lehne ich ab. Allen Freunden und Bekannten schreibe ich, dass es uns gutgeht. Nach dem Frühstück gehe ich durch Boston. Der Zielbereich ist immer noch sehr weiträumig abgeriegelt und wird es vermutlich noch Tage bleiben. Viele Läden sind geschlossen. Die Fahnen wehen auf Halbmast. Die Stimmung der Leute ist gedrückt. Am Nachmittag geht’s dann weiter Richtung London – zum Marathon.“