Hilpoltstein
"Mit Maske verstehe ich kein Wort"

Marcus Willam ist gehörlos und kann wegen der Pflicht zum Nasen-Mund-Schutz nicht mehr von den Lippen ablesen

02.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:15 Uhr
Schwierige Situation im Alltag: Marcus Willam ist gehörlos, spricht aber sehr gut die Lautsprache. Trotzdem: "Wenn ich beim Bäcker bin, sage ich nie, dass ich zwei Semmeln oder drei Hörnchen will. Ich deute und zeige mit den Fingern die Anzahl." −Foto: Bader

Hilpoltstein - Wenn Marcus Willam einkaufen geht, braucht er vor allem eines: Einen ungehinderten Blick auf den Mund seines Gegenübers.

 

Doch in Zeiten der Maskenpflicht ist es dem Gehörlosen nicht mehr möglich, einen Verkäufer oder eine Verkäuferin zu verstehen. Da wird die Corona-Krise zu einem zusätzlichen Verständigungsproblem.

Die Sprache der Hörenden, die sogenannte Lautsprache, ist für Marcus Willam sowieso schwer zu verstehen. Nur rund 30 Prozent des gesprochenen Wortes kann er vom Mund ablesen. Den Rest muss er sich aus dem Kontext herausarbeiten und aus der Mimik seines Gegenübers lesen.

Jetzt, nach Einführung des Mund-Nasen-Schutzes, steht er auf verlorenem Posten. "Mit Maske verstehe ich kein Wort", sagt er, denn jetzt ist vom Gesicht bis auf den kleinen Augenausschnitt nichts mehr zu sehen. "Ich sehe an aufgerissenen Augen höchstens eine Frage oder Verwunderung - vielleicht auch noch Ärger. " Aber dann wird es schwer. "Das ist so, wie wenn du nach Frankreich fährst und dich, ohne die Sprache zu können, unterhalten willst", sagt Willam. "Weit wirst du da nicht kommen. "

Auch wenn er selbst gehörlos ist, spricht er die Lautsprache außergewöhnlich gut. Das ist für einen hörenden Menschen äußerst praktisch, für ihn aber schweißtreibend. "Ich kann mich nur schwer auf meine Gedanken konzentrieren, frage mich eher, was und wie ich etwas sagen muss, damit mein Gegenüber mich versteht. "

Wenn Willam mit anderen Gehörlosen zusammen ist oder mit den wenigen Hörenden, die trotzdem die Gebärdensprache kennen, geht ihm im wahrsten Sinne des Wortes alles locker von der Hand. "Es ist so einfach, so schnell, da muss ich nicht überlegen, wie ich etwas sage", so der 46-jährige Hilpoltsteiner, der auch wenn er mit einem Hörenden spricht, seine Worte mit den Händen untermalt. "Mit der Gebärdensprache kann ich mich ganz auf die Diskussion einlassen, kann meine Gedanken schnell ausdrücken, ohne dazwischen nach dem richtigen Wort in der Lautsprache zu suchen. "

Und gerade letzteres kann schwierig sein. Auch wenn er den Alltagswortschatz der Hörenden aus dem Effeff beherrscht, wird es bei komplexen Themen kompliziert. "Bei einer Diskussion über Politik, über Geschichte, fehlen mir einfach einige Begriffe. " Hier bleibt ihm nur, dass er das, was er sagen will, langwierig umschreibt. Außerdem muss er ständig Begriffe lernen, die er vorher - wie andere Menschen sagen würden - noch nie gehört hat. So wie übrigens auch das jetzt so aktuelle Wort Pandemie. "Wenn so etwas jemand zum ersten Mal zu mir sagt, werde ich mit dem Lippenlesen nicht weiterkommen, ich werde nicht verstehen, was er mir sagen will. "

Und manchmal muss er sich außerdem mit einem weiteren Problem herumschlagen: Viel zu viele Menschen würden bei einem Gehörlosen auch automatisch von einer geistigen Behinderung ausgehen. Auch ihm sei das schon passiert. Am Empfang eines Arztes wollte die Sprechstundenhilfe ihm partout nicht weiterhelfen. Sie hat nur immer wieder aufs Neue den gleichen Satz wiederholt: "Holen Sie Ihren Betreuer. " Der Hinweis, dass er wie jeder andere Mensch eigenständig lebt und keinen Helfer braucht, hat nicht gefruchtet. "Holen Sie Ihren Betreuer", war alles, was er zu hören bekam. Bis ihm dann der Geduldsfaden riss und mit einem Schlag auf die Theke klar machte: "Ich bin normal, ich bin verheiratet, ich habe Kinder - nur mein Ohr ist kaputt. " Dann habe es endlich funktioniert.

Willam ist trotz solcher Erlebnisse froh, dass es in Hilpoltstein mit Regens Wagner Zell eine Einrichtung gibt, die sich um Gehörlose mit geistiger Behinderung kümmert. Nicht nur, dass er dort arbeitet und sich unter anderem um neue Mitarbeiter und Praktikanten kümmert, die in der Einrichtung arbeiten wollen: Dadurch dass es Regens Wagner gibt, sind es die Menschen in Hilpoltstein gewöhnt, auf Gehörlose zu treffen. "Dadurch habe ich es hier beim Einkaufen wesentlich leichter, als zum Beispiel in Roth oder in Nürnberg. "

Auch wenn er die Lautsprache beherrscht - wenn er zum Beispiel in die Hilpoltsteiner Bäckerei Brandmeyr geht, verlangt er trotzdem nicht nach Semmeln, Hörnchen oder Brezen. "Ich deute mit dem Finger darauf , zeige, wie viel ich davon will", sagt er. Und da die Chefin Diana Brandmeyr ihn kennt und weiß, dass er gehörlos ist, schiebt sie dann ganz kurz die Maske nach unten, sagt ihm schnell den Preis und zieht die Maske gleich wieder hoch. "Das geht schneller als wenn ich nach dem Display an der Kasse schauen muss", sagt Willam.

Und man darf die Maske übrigens auch abnehmen: Eine Ausnahmegenehmigung des Bayerischen Gesundheitsministeriums erlaubt es im Gespräch mit gehörlosen Menschen, den Nasen-Mund-Schutz zur besseren Verständigung wegzulassen. Und auch bei der Kommunikation zwischen Gehörlosen ist die Maske nicht zwingend. Nicht nur, weil sie bei der Gebärdensprachen den freien Blick auf das Gesicht des anderen brauchen, um daraus lesen zu können: Sondern auch deshalb, weil dadurch, dass sie nicht sprechen, die Gefahr einer Tröpfcheninfektion kaum relevant ist. "Wer sich also nicht anstecken und andere schützen will, für den gibt es eine einfache Lösung", sagt Willam und grinst: "Die Gebärdensprache lernen. "

HK