Eysölden
Mit Puppen spielen wollte sie nicht

Das erste "Fräulein Doktor" in Bayern: Bertha Kipfmüller startete ihre Karriere in Eysölden

01.03.2013 | Stand 03.12.2020, 0:26 Uhr

Genauso wie vor 130 Jahren, als Bertha Kipfmüller ihren Dienst als Hilfslehrerin antrat, sieht das Ensemble von Schule, Kirche und Fachwerkhaus in der Ortsmitte von Eysölden aus - Foto: Karch

Eysölden (HK) Das Leben einer ungewöhnlichen Frau wird derzeit erforscht: Bertha Kipfmüller startete ihre Karriere als erste Hilfslehrerin in Eysölden, wurde zur revolutionären Frauenrechtlerin und zum ersten Fräulein Doktor Bayerns.

Im Vorfeld des Internationalen Frauentags, der am 8. März begangen wird, ist der Werdegang von Bertha Kipfmüller besonders interessant. Ihr Urgroßneffe Hans-Peter Kipfmüller ist bei seinen Recherchen über die Frauenrechtlerin auf ihre Zeit in Eysölden und Stauf gestoßen – zwei Orte die Bertha in ihren Tagebüchern für ihren weiteren Lebensweg als wichtig beschreibt. Im Forsthaus in Stauf traf der Forscher auf die Bewohnerin Wiltrud Duls-Zogg und bat sie, die Tagebucheinträge von Bertha Kipfmüller, die Eysölden und Stauf betreffen, wegen seiner fehlenden Orts- und Personenkenntnis zu berichtigen und zu ergänzen. Aus den Tagebüchern soll eine möglichst authentische Biografie werden. Wiltrud Duls-Zogg gab diese Blätter an Irmgard Prommersberger weiter. Die gebürtige Eysöldnerin hat nicht nur die Landkreisbibliothek aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung mit wissenschaftlicher Recherche. So kann man jetzt auch in Eysölden die Geschichte des „Fräulein Doktor“, dieser kleinen, zähen, bemerkenswerten Frau, nachvollziehen und ergänzen.

Geboren wurde sie als Bertha Friederika Kipfmüller am 28. Februar 1861 in Pappenheim. Sie war die Tochter des Pappenheimer Bürgers und Goldschmieds Christian Albert Kipfmüller. Sie wurde evangelisch getauft und wuchs mit elf Geschwistern auf. Sie wird als nachdenkliches, in ihren Gedanken und ihrem Willen allerdings sehr selbstsicheres Kind beschrieben. Sie hatte zudem eine durchdringende, sich durchsetzende Stimme, mit der sie gerne sang. Mit Puppen zu spielen lag ihr allerdings nicht. Dagegen hatte es ihr die Bewegung in der freien Natur angetan. Bald kam die kleine Bertha in die von der Gräfin Anastasia zu Pappenheim gegründete Kleinkinderschule. Hier gab es keine Geschlechter- und Standestrennungen. Diese Gemeinschaft war wohl prägend für Berthas Leben.

Als Frau Goldschmiedin zu lernen und das Geschäft des Vaters zu übernehmen, durfte sie aufgrund der damaligen Berufsvorschriften nicht. Berthas Lehrer schlug dem Vater nach der Volksschule eine weitere Schulausbildung vor. Danach erhielt Bertha Kipfmüller mit 18 Jahren unverhofft, von 1879 bis 1882, eine Stelle als königlich bayerische Aushilfslehrerin im Markt Eysölden. Hilfslehrerstellen bekamen zu dieser Zeit nur die männlichen unverheirateten Kollegen. Schulleiterstellen waren für damalige Lehrerinnen unerreichbar. In ihrem Tagebuch beschreibt Bertha ihren Fußweg von Pappenheim nach Eysölden, neben dem Wagen mit ihren Habseligkeiten hermarschierend. Sie erinnert sich an ihre Ankunft im Ort, ihre erste Schulstelle, Schulstunde und „ihre“ Kinder. Sie schreibt über diese: „Ich liebte die Kinder und die Kinder liebten mich.“

Sie beschreibt die Überprüfung ihrer Arbeit vor Ort durch den Ortspfarrer und den königlich bayerischen Bezirksamtmann (heute wäre das der Landrat) Spieß aus Hilpoltstein. Der war zu diesem Zweck in seiner Galauniform mit Hut und Dienstdegen erschienen. Bertha erzählt von ihrer Unterkunft und ihr damals staatlich vorgegebenes Zusammenleben mit der Familie ihres Vorgesetzten und des einzigen Kollegen. Dieser war gleichzeitig Kantor in der Kirche, die Aushilfslehrerin war seine Vertretung. Bertha bekam dessen nächtliche Prügelattacken gegen seine Ehefrau und seine Kinder mit. Für die junge Lehrerin mit Gerechtigkeitssinn war es beschämend, ohnmächtig dabei zuhören zu müssen. Zur damaligen Zeit war für die Züchtigung der Ehefrau und von Familienangehörigen leider keine Strafe vorgesehen. Ihr Vorgesetzter hatte zudem pädophile Neigungen, für die er später verhaftet und zu Zuchthaus verurteilt wurde. Nach diesem Tumult im Dorf musste das Fräulein Lehrerin die Ober- und Unterstufe, die ganzen Kinder des Schulsprengels, alleine unterrichten. Die Oberstufe aus mehreren Jahrgängen am Vormittag, die Unterstufe aus mehreren Jahrgängen am Nachmittag. Dieses waren zusammen ungefähr 200 Kinder aus Eysölden, Pyras, Stauf, Steindl und von den umliegenden Einzelhöfen des Pfarrsprengels. Diese Kinderschar musste täglich beschäftigt werden, und sie sollte dabei auch noch etwas lernen. Zudem waren nun alle Kantorendienste in der Kirche alleine zu leisten, bis ein neuer Schulleiter sowie ein Hilfslehrer gefunden waren. Sehr viel Verantwortung für eine junge Aushilfslehrerin.

Liebevoll oder auch kritisch beschreibt Bertha ihr Umfeld und die Menschen darin. Berthas Schüler und Schülerinnen sind zum Teil die Urgroßeltern der heute in das Rentenalter kommenden Bewohner der genannten Orte. Sie berichtet auch von ihren Spaziergängen und von den dabei gefassten Entschlüssen. Man erfährt von ihrer Freundschaft zur Pfarrersfamilie, den geliebten Kulturabenden im Pfarrhaus und den Teilnehmern. Dabei lernte sie auch ihre erste große Liebe, einen Offizier, kennen, der sich im Forsthaus in Stauf von den körperlichen und seelischen Wunden des Deutsch-Französischen Krieges erholte. Die veralteten Gesellschaftsregeln standen allerdings einer Verbindung des Offiziers mit der Lehrerin im Weg. Vater Kipfmüller hatte zudem nicht das Geld, für seine Tochter ein entsprechendes Heiratsgut als Absicherung zu hinterlegen. Damals hatten Lehrerinnen zudem Residenzpflicht und durften nicht heiraten. Machten sie dieses trotzdem, verloren sie ihre schwer erkämpfte Anstellung. Berthas große Liebe wurde abkommandiert und beging später Selbstmord.

Aus diesem Trauma heraus hat Bertha den Entschluss gefasst, ledig zu bleiben und zu studieren. Ihr nächster Einsatz als Aushilfslehrerin war von 1882 bis 1883 in Immeldorf, heute Ortsteil des Marktes Lichtenau im Landkreis Ansbach. In diesem Jahr machte die junge Lehrerin ihr Anstellungs-prüfungsexamen und war jetzt im Besitz einer „ab-geschlossenen Bildung“. Sie wurde danach Lehrerin in einem Nürnberger Vorort. Sie rief 1886 den „Mittelfränkischen Lehrerinnen Berufsverein“ ins Leben. Dafür zog sie sich wegen „Propaganda für die Frauenbewegung“ den Tadel der Schulkommission zu.

Sie hat in den folgenden Jahren noch weitere soziale Vereine und Einrichtungen gegründet oder mitbegründet. Sie forderte auch für Nürnberg die Einrichtung eines Mädchengymnasiums mit weiblichen Lehrkräften. Sie selbst konnte aber nicht mitarbeiten, sie hatte ja kein Studium. In den Jahren 1894 und 1895 bereitete sie sich heimlich auf das Abitur vor und begann dann mit einer Sondererlaubnis der Pädagogischen Fakultät das Studium der Fächer Germanistik, Sanskrit, allgemeine Sprachwissenschaft, Philosophie und Nationalökonomie an der Universität Heidelberg. Ihr Studium beendete sie mit ihrer Arbeit „Das Liffländische Lustspiel. Ein Beitrag zur Lustspieltechnik des 18. Jahrhunderts“.

Damit wurde Bertha 1899 zur ersten Frau Doktor der Philosophie im Königreich Bayern. Das nächste Ziel war Lehrerin der „Höheren Töchterschule“ am Frauentorgraben in Nürnberg. Dort blieb sie dann und wurde kurz vor ihrem Ruhestand noch zur Studienrätin ernannt. Man darf wohl eher Unruhestand sagen. Erst nach ihrer Pensionierung studierte sie in Erlangen Jura und promovierte mit ihrer Arbeit „Die Frau im Rechte der Freien Reichsstadt Nürnberg“ und erhielt den Dr. jur. verliehen. Ein erneuter Rekord: Sie war somit die erste zweifache Doktorin im inzwischen zum Freistaat deklarierten Bayern. Auf ihr „Fräulein“ im Zusammenhang mit ihren beiden Doktortiteln legte sie großen Wert, denn sie soll einst gesagt haben: „Jede Schneegans nennt sich in Bayern immer noch Frau Doktor, weil der Mann es ist.“