Ein sinnloses Gefecht mit 19 Toten

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wird in Zell an der Speck gekämpft - Manche Fragen bis heute offen

23.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:29 Uhr
Zwei Flugabwehrkanonen vom Kaliber 8,8 cm wurden zweckentfremdet für den Kampf gegen amerikanische Panzer eingesetzt, sie waren am Ortsrand von Zell in Stellung. −Foto: Spreng

Zell a.

d. Speck - Der noch entfernte Geschützdonner ist unüberhörbar. Bereits in aller Frühe brechen die Pfarrangehörigen von Meilenhofen trotz Verbots zur alljährlichen Markus-Prozession in die Kirche nach Zell a. d. Speck auf. Am Schluss des Gottesdienstes bittet Pfarrer Lorenz Schmid die Wallfahrer wegen der Tiefflieger, die zu dieser Zeit bereits über dem Schuttertal unterwegs sind, den Rückweg nach Meilenhofen in kleinen Gruppen im Wald oder am Waldrand zurückzugehen. Pfarrer Schmid geht zwischenzeitlich in Zell von Haus zu Haus, um den Pfarrangehörigen die Generalabsolution zu erteilen, das Gleiche tut er anschließend in Meilenhofen. Es ist Mittwoch, der 25. April 1945. Das Ende des Zweiten Weltkrieges rückt näher.

In Meilenhofen stauen sich bereits in der Nacht viele deutsche Militärfahrzeuge in den Straßen, anschließend beginnt in Zell der Aufbau einer Verteidigungsstellung. Sie besteht hauptsächlich aus zwei schweren Flugabwehrkanonen vom Kaliber 8,8 cm und neun 20-mm-Flugabwehrgeschützen. Die kleineren werden in den Feldern oberhalb von Zell in Stellung gebracht, während die zwei schweren Geschütze direkt am Ortsrand, teilweise getarnt, in einem Strohhaufen stehen. Zeitgleich setzt der Rückzug der deutschen Truppen ein. Der Konvoi aus Fahrzeugen, Pferdegespannen und Motorrädern versucht, von Wellheim über Biesenhard kommend auf dem Weg durch Meilenhofen den Donauübergang in Neuburg zu erreichen, bevor die Brücke unmittelbar danach gesprengt wird. Vermutlich sollte durch den Aufbau der Verteidigungslinie in Zell die Donauüberquerung der Alliierten verhindert oder zumindest erschwert werden.

Um 10.15 Uhr schlagen die ersten Granaten am Haselberg ein, wenige hundert Meter vom Waldrand entfernt, abgefeuert von den Geschützen in Zell, die damit die Aufklärungseinheit der 45. amerikanischen Infanteriedivision ins Visier nehmen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt suchen die Bewohner von Meilenhofen und Zell Schutz in ihren Kellern. Wer keinen hat, hat sich Wochen vorher, meist im Garten, einen Bunker bauen müssen: Ein mehr oder minder großes Loch, abgedeckt mit Hölzern und dem Erdaushub. Auch einige einheimische Soldaten, die sich wegen einer Verwundung im Urlaub befinden, sitzen mit unguten Gefühlen in solch einem Unterschlupf.

Es ist etwa 12.30 Uhr, als die amerikanischen Panzer vom Haselberg kommend in Richtung Meilenhofen unterwegs sind. Der erste wird von einer Granate getroffen, die jedoch abprallt, ohne zu explodieren. Die Besatzung des Panzers springt ab und robbt unter dem Feuer der deutschen Soldaten und dem Beschuss von Infanteriewaffen zum ersten Hof am Ortsrand von Meilenhofen. Pfarrer Lorenz Schmid und Georg Meilinger signalisieren mit einer weißen Fahne, dass den Amerikanern im Ort keine Gefahr droht. Einige wagemutige Männer hatten zudem die im Ort errichtete Panzersperre beseitigt.

Trotzdem suchen die amerikanischen Soldaten Schutz in der Scheune eines landwirtschaftlichen Anwesens. So gelangen sie in den Keller der Familie Günthner, die sich dort aufhält. Unter diesen amerikanischen Soldaten befindet sich auch der noch nicht 20 Jahre alte Walter Johnson. Er sieht, wie die Bäuerin Rosalia Günthner für eines ihrer Kinder Milch wärmt, und auch ihm gibt sie Milch zum Trinken. Fast 50 Jahre später wird Walter Johnson zusammen mit seiner Frau Mary den Ort des damaligen Geschehens noch einmal besuchen. Auf Fotos wird der ehemalige Soldat die deutsche Frau wiedererkennen, die ihm damals Milch gegeben hat. Auch die Kinder und Enkelkinder von Rosalia Günthner wissen dies aus Erzählungen von der Mutter und der Großmutter.

Zurück ins Jahr 1945: Um 15.45 Uhr wird die Division informiert, dass das gesamte 2. Bataillon in Meilenhofen liegt. Jetzt, zu Beginn des späten Nachmittags, soll Zell eingenommen werden. Den ersten Kontakt mit den deutschen Verteidigern von Zell hat die Gruppe von Sergeant Littlefield an der Zellmühle, als sie eine Brandgranate in die westliche Scheune werfen. Etwa sieben bis acht deutsche Soldaten kommen mit erhobenen Händen heraus, erinnert sich Walter Johnson. Im weiteren Verlauf werden das gesamte Anwesen, das Wohnhaus mit der Mühle, der Stall und die Scheunen in Schutt und Asche gelegt. Die Familie Meilinger verfügt nur noch über das, was sie am Leibe trägt. Zwei weitere Scheunen wurden in Zell und Meilenhofen in Brand geschossen und zerstört.

Die Bilanz des unsinnigen Gefechtes: 18 tote deutsche Soldaten, viele davon Jugendliche, und ein amerikanischer Soldat. Die Amerikaner wickeln ihren toten Kameraden in eine Zeltplane und legen ihn kurzzeitig vor dem Gasthaus in Meilenhofen ab, bevor er auf einem der großen amerikanischen Soldatenfriedhöfe in Frankreich beigesetzt wird. Eine Gedenktafel am Zeller Soldatenfriedhof erinnert an den aus New York stammenden Ben Bryan.

Die deutschen Gefallenen dürfen erst drei Tage später geborgen werden. Am Ortsrand von Zell schaufeln Helfer zwischenzeitlich auf einem steinigen Acker die Gräber. Pfarrer Lorenz Schmid und Georg Meilinger identifizieren die Toten anhand von Soldbüchern und Erkennungsmarken, doch bei einem Unteroffizier ist dies nicht möglich: Er ruht bis heute als unbekannter Soldat auf dem Friedhof am Ortsrand von Zell a. d. Speck.

Seit nunmehr 75 Jahren reißt die Diskussion über den Tod der 18 deutschen Soldaten in Zell nicht ab. Die Frage lautet: Wurde ein Teil von ihnen liquidiert? Haben die Amerikaner Kriegsverbrechen begangen, indem sie Gefangene durch Genickschuss töteten? War es eine Vergeltungsaktion, weil sie einen Toten zu beklagen hatten?

Auch der Verfasser dieses Berichtes sah als Neunjähriger sechs bis acht tote Soldaten hinter den sogenannten Behelfsheimen liegen. Diese Behelfsheime waren kleine Wohnhäuser, die im Rohbau bereits fertiggestellt und für Ausgebombte aus den Städten gedacht waren. Ihm fiel auf, dass das Genick der Soldaten unter dem Stahlhelm blutig war. Besonders hat sich das Gesicht eines Soldaten eingeprägt, der am Vormittag des 25. April noch im elterlichen Haus in Meilenhofen war und von der Mutter mit ein paar Spiegeleiern versorgt wurde.

Auch gibt es die Vermutung, dass die roten Kragenspiegel mit den Luftwaffenschwingen an den Uniformen der deutschen Soldaten von den Amerikanern als "Rote SS" gedeutet wurden, mit deren Trägern man entsprechend umging.

In einem Vortrag beim Verein für Heimatpflege im Schuttergäu stellte Professor Ludwig Hartmann aus Unterstall mit Zeitzeugen aus Meilenhofen und Zell seine Untersuchungen über die Geschehnisse von Zell a. d. Speck der Öffentlichkeit vor. Auch die "Historischen Blätter", Ausgabe fünf von 1994, berichten ausführlich über die Recherchen von Hartmann. Dieser hat in akribischer Arbeit versucht, die offenen Fragen zu beantworten. Er forschte im amerikanischen Nationalarchiv, holte sich Informationen aus den zum Teil minutengenauen Aufzeichnungen des Kriegstagebuches der Einheit. Hartmann verfolgte den Weg des 179. Infanterieregiments. Er kontaktierte in Amerika einige Soldaten, die in Zell dabei waren, darunter den Offizier, der die amerikanischen Panzer anführte. Auch Feldwebel Llewellyn Chilson gehörte dazu. 1985 besuchte seine Tochter Marylin Pfarrer Lorenz Schmid. Die Frage nach einer Mitschuld ihres Vaters blieb unbeantwortet. Der Bayerische Rundfunk versuchte 1995 in einem Radiobeitrag, die offenen Fragen zu beantworten. Kurze Zeit später schickte das ZDF ein Kamerateam zur Gedenkfeier am Volkstrauertag, um ein Interview mit Pfarrer Schmid zu führen. Eine eindeutige Antwort gibt es bis heute nicht.

Die damalige Gemeinde Meilenhofen beauftragte den Zeller Schreinermeister Thomas Schielle und seinen Sohn Karl damit, 18 Gedenktafeln mit den Namen der Gefallenen zu fertigen und eine entsprechende Einfriedung für die Gräber zu erstellen. Die Geschützrohre der leichten Flak fanden hierbei als Zaunpfosten eine ungewöhnliche Verwendung. Der Bildhauer Eduard Graf aus Eichstätt schuf einen ausdrucksvollen Christus am Kreuz. Sein Enkel Raphael Graf hat den Corpus vor zwei Jahren fachgerecht restauriert.

Anfang der 1960er-Jahre entstand auf Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf dem Nagelberg bei Treuchtlingen eine zentrale Gedenkstätte für die Gefallenen aus der näheren und weiteren Umgebung. Auch die Gefallenen aus Zell sollten dorthin umgebettet werden. Auf Drängen des damaligen Landrates Hans Pappenberger, Bürgermeister Georg Meilinger und Pfarrer Lorenz Schmid beließ man sie in Zell. Der Volksbund gestaltete die Grabanlage um und übergab sie in die Obhut der Gemeinde Meilenhofen.

Nach der Gebietsreform 1972 kam bei Straßenarbeiten in Nassenfels ein riesiger Findling ans Tageslicht. Der Markt Nassenfels ließ ihn zwischen zwei Linden an der Gedenkstätte setzen. Die Inschrift mit dem Text von Pfarrer Schmid auf einer Bronzetafel lautet: "Hier ruhen 18 deutsche Soldaten. Gefallen auf unserer Flur am 25. 4. 1945, im und nach dem Kampf mit amerikanischen Panzern. Ihr Opfer ist gerechtfertigt durch den Glauben, ihr Leben ist bei Gott aufgehoben, ihr Andenken bei den Menschen. "

Die Kreiskriegervereinigung Eichstätt-Land, die 1958 unter dem Vorsitzenden Anton Ganser aus Hitzhofen gegründet worden war, beteiligte sich erstmals 1963 an der Gedenkfeier zum Volkstrauertag in Zell an der Speck. Wegen der überörtlichen Bedeutung der Gedenkstätte haben es sich die 17 zusammengeschlossenen Krieger-, Soldaten- und Veteranenvereine zu ihrer Aufgabe gemacht, jeweils am Volkstrauertag ein gemeinsames Zeichen für Frieden und gegen das Vergessen zu setzen. Auch an diesem Samstag, 75 Jahre nach dem schrecklichen Ende in Zell, war für den Abend eine Gedenkfeier mit allen Vereinen geplant, zu der auch Angehörige der Gefallenen kommen wollten. Wegen der gegebenen Umstände der Corona-Pandemie musste der Vorsitzende der Kreiskrieger- vereinigung Franz Bayer die Veranstaltung absagen. Für die 19 Toten von Zell werden am Abend Kerzen entzündet, um die Erinnerung an das Geschehen für die Zukunft wachzuhalten.

EK

Andreas Spreng