Eichstätt
"So etwas darf nie wieder passieren"

Elf weitere "Stoplersteine" erinnern an das Schicksal der Familien Dachauer, Marx und Haenlein

02.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:06 Uhr

Foto: Rudolf Hager

Eichstätt (EK) An drei weiteren Gebäuden wird nun an das Leben und das Schicksal jüdischer Familien in Eichstätt erinnert. Gestern Abend wurden an der Westenstraße 1, Am Graben 21 und an der Luitpoldstraße 16 insgesamt elf weitere "Stolpersteine" gesetzt.

Auf Initiative des P-Seminars des Gabrieli-Gymnasiums hatte der Kölner Künstler Gunter Demnig, der europaweit mit dem Setzen von "Stolpersteinen" an jüdische Opfer des Nationalsozialismus erinnert, im Mai 2015 in Eichstätt die ersten sieben Steine im Gedenken an Mitglieder der Familien Löw, Liebmann, Guttentag, Schimmel und Dachauer verlegt. Gestern kamen elf weitere dazu, diesmal hatte der Gesprächskreis Christentum - Judentum die Initiative ergriffen, Diözesanarchivar a.D. Brun Appel hatte die Familiengeschichten der Opfer recherchiert, die Aktion wurde erneut von Spenden finanziert.

1933 waren in der Stadt Eichstätt noch 27 jüdische Mitbürger gemeldet, Ende 1938 war es kein einziger mehr. Die Menschen wurden aus dem städtischen Leben gerissen, sie flohen oder sie wurden deportiert und ermordet. Oberbürgermeister Andreas Steppberger dankte gestern Abend bei der würdig mit Musik und Textbeiträgen gestalteten Zeremonie allen Beteiligten. Er betonte: "Wir können die Geschichte nicht revidieren, aber wir haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht wiederholt." Die "Stolpersteine" seien "Mahnmale der Menschlichkeit", sagte der OB. "Dass damals so viele den Tätern zugeschaut hatten, auch mitten in unserer Stadt, das macht uns heute noch fassungslos, das mahnt uns auch heute zur Wachsamkeit. So etwas darf nie wieder passieren."

Emotional äußerst bewegt verfolgte Madeleine Dicker die Zeremonie. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärte die 67-jährige Britin, die zufällig auf Besuch in Eichstätt ist, warum: Sie sei selbst Jüdin und sehr berührt, wie wunderbar hier die Erinnerung wach gehalten werde. Erinnerung sei für alle Menschen sehr wichtig - ebenso wie die Lehre daraus, dass so etwas nicht mehr passieren dürfe. Da stimme sie dem Oberbürgermeister aus vollem Herzen zu.

Das Haus Westenstraße 1, in dem heutzutage der EICHSTÄTTER KURIER seinen Sitz hat, erwarben die in Thalmässing geborenen Brüder Max und Hermann Dachauer 1906, sie verkauften es 1913 an den Tuchmacher Michael Wutz. Hermann Dachauer kaufte 1915 das Haus Luitpoldstraße 14; dort wurde bei der ersten Aktion im Mai 2015 auch Steine im Gedenken an ihn und seine Frau Emilie gesetzt. Am Anwesen Westenstraße 1 wird nun an Max Dachauers Frau Sabine sowie an die Kinder Frieda, Julie, Else und Walter Dachauer erinnert. Max Dachauer selbst lebte und starb 1927 in Altdorf. Die drei Töchter zogen in den 1920er Jahren von Eichstätt weg. Im August 1937 verließ ihre Mutter Sabine Dachauer ebenfalls Eichstätt und zog zu ihrer Tochter Else nach Koblenz. Am 24. März 1942 wurden sie von dort mit Elses Familie deportiert und vermutlich in Sobibor ermordet.

Ihre älteste Tochter Dr. Frieda Dachauer kam mit ihrer Familie am 28. Juni 1943 nach Auschwitz. Mutter und Sohn wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft dort ermordet. Julie Dachauer, 1900 in Eichstätt geboren, wurde am 22. März 1942 mit ihrem Mann ebenfalls in einem Vernichtungslager ermordet. Ebenso wie ihr Bruder Walter Dachauer, 1909 in diesem Haus geboren, mit seiner Frau und dem kleinen Sohn.

Das Haus Luitpoldstraße 16, heute im Besitz der Familie Dr. Eisenkeil, gehörte damals der Druckereibesitzer-Familie Daentler. Seit Ende 1927 oder Anfang 1928 wohnten hier der Viehhändler Siegmund Marx und seine Frau Rosa. Sie waren im Juni 1911 mit ihren vier Kindern Helene, Berta, Wilhelm und Walter von Nürnberg nach Eichstätt gezogen, zunächst in die Pedettistraße 22. Siegmund Marx war Kassier und Vorstand der Israelitischen Filialkultusgemeinde, die bis 1933 bestand. Anfang April 1938 meldete sich das Ehepaar Siegmund und Rosa hier ab und übersiedelte nach Berlin-Wilmersdorf. Am 17. Juli 1942 wurden sie in das Ghetto Theresienstadt und von dort am 19. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet.

Im Haus Am Graben 21 ("Weißes Ross"), das damals der Hofmühl-Brauerei gehörte, wohnte spätestens seit 1921 die Familie des Rechtsanwalts Salomon Haenlein. Bereits als Rechtspraktikant trat Haenlein dem Historischen Verein Eichstätt bei und wurde 1897 einstimmig in die Gesellschaft Casino aufgenommen. 1918 wurde er in den Rat der geistigen Arbeiter gewählt. 1927 erhielt er den Titel Justizrat. Salomon Haenlein war in die Eichstätter Gesellschaft integriert. Die Kanzlei, bis 1933 in der Pfahlstraße 9, dann ebenfalls im "Weißen Ross" Am Graben 21, war bis dahin gut ausgelastet. Ab Frühjahr 1933 durfte er nur noch Juden vertreten, die allerdings in Eichstätt von Jahr zu Jahr weniger wurden. Am Morgen des 17. September 1935 fand ihn seine Sekretärin tot in seiner Kanzlei. Wahrscheinlich hat er, um weiteren Beschränkungen und Verfolgungen zu entgehen, die Flucht in den Tod gesucht. Sein Grabstein am jüdischen Friedhof in Pappenheim war bereits im November 1937 zerstört.