Eichstätt
Der Streit um "Stille Nacht"

Vor 110 Jahren verteidigte der Eichstätter Wilhelm Widmann Melodie und Text des Weihnachtslieds

23.12.2012 | Stand 03.12.2020, 0:41 Uhr

Domkapellmeister Wilhelm Widmann (1858-1939) - Foto: Hager

Eichstätt (EK) Der Text von „Stille Nacht – Heilige Nacht“ ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden, und die unterschiedlichsten Arrangements des Liedes ertönen alljährlich zur Weihnachtszeit. Dass Text und Melodie allerdings auch immer wieder kritischen Anfeindungen ausgesetzt war, ist weniger bekannt. Der Eichstätter Domkapellmeister Wilhelm Widmann (1858-1939) gehörte zu den eifrigsten Befürwortern von Text und Melodie.

Im 19. Jahrhundert galt „Stille Nacht“ als Volkslied, als namenloses Volksgut. König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795-1861) gefiel „Stille Nacht“ besonders gut, und seine Hofkapelle bat 1854 das Salzburger Stift Sankt Peter um eine Abschrift des Liedes. Auf diesem Wege stieß man auf den Komponisten Franz Xaver Gruber, der im Dezember 1854 handschriftlich eine „Authentische Veranlassung zur Composition des Weihnachtsliedes Stille Nacht, Heilige Nacht“ abfasste. Nach dieser Niederschrift kann man sich die Geschichte des Lieds zusammenreimen.

Am 24. Dezember 1818 war Welturaufführung von „Stille Nacht.“ Der Text stammt vom Hilfspfarrer Joseph Mohr, der 1817 die Stelle als Hilfspriester in Oberndorf am rechten Salzachufer rund 20 Kilometer flussabwärts von Salzburg erhalten hatte. Vor Weihnachten 1818 komponierte der Dorfschullehrer und Organist Franz Xaver Gruber eine Melodie zu Mohrs Gedicht. Franz Xaver Gruber wurde am 25. November 1787 in Hochburg, etwa 40 Kilometer von Oberndorf entfernt, geboren.

An Heiligabend 1818 wurde „Stille Nacht“ in der Kirche St. Nikolaus in Oberndorf erstmals vorgetragen: Mohr sang Tenor, Gruber Bass, begleitet wurde der Gesang in der Uraufführung nur durch eine von Mohr gespielte Gitarre. Im Jahr 1995 wurde in Salzburg eine von Joseph Mohr gefertigte Niederschrift mit Noten für zwei Stimmen und Gitarre unter dem Titel „Weyhnachts-Lied“ gefunden, die wohl aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts datiert. Die sorgfältige Reinschrift weist darauf hin, dass Mohr das Blatt zur Weitergabe an andere intendiert hat. Der Hinweis „Melodie von Fr. Xav. Gruber“ (rechts oben) gibt den Komponisten an. Am unteren Rand links fügt Mohr an: „Text von Joseph Mohr Coadjutor 1816. mia“ [= manu propria, eigenhändig]. Es handelt sich dabei um die einzige erhaltene Niederschrift des Textdichters Mohr, die übrigen Überlieferungsträger stammen vom Komponisten Gruber. Die durchaus weitverbreitete Annahme, dass Text und Melodie an ein und demselben Tag zu Weihnachten 1818 entstanden seien, ist nach dieser Angabe sicherlich nicht haltbar: Mohr hatte den Text bereits gedichtet, bevor er nach Oberndorf versetzt wurde. Die Urschrift, nach der am Ende der Christmette 1818 musiziert wurde, ist bis auf weiters verschollen. Die Urfassung hat sechs Strophen, von denen aber jetzt nur die beiden ersten und die letzte gesungen werden. Die Notierung ist in D-Dur, während heute in C-Dur gesungen wird.

Der Text spricht die Wünsche eines jeden Menschen an. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts galt es, das durch die napoleonischen Kriege hereingebrochene Elend zu überwinden. Im Gefolge der Expansionspolitik von Napoleon Bonaparte hatte auch das Land Salzburg schwer zu leiden. Am 30. April 1818 gar entstand in der Stadt Salzburg ein gewaltiger Brand. Die Kirche spielte im 19. Jahrhundert eine tragende Rolle und stieß auf gläubige Ohren mit dem Hinweis, dass nach der irdischen Mühsal eine ewige Belohnung zu erwarten sei. Dazu kommt die wiegenliedartige Melodie, die den großen Vorteil hat, dass sie sehr einprägsam und leicht zu singen ist. Das Lied von Mohr und Gruber suggeriert eine harmonische Familienidylle, nach der sich jeder sehnt.

Aber sowohl der Text als auch die Melodie sind im Laufe der Zeit heftig kritisiert worden. Insbesondere den Text fand der Mainzer Domkapellmeister Georg Weber (1838-1911) beanstandenswert. Nach Webers Meinung ist in der ersten Strophe nicht „die leiseste Spur eines christlichen und religiösen Gedankens“ zu erkennen. Auch an der Melodie lässt Weber kein gutes Haar: „Dieselbe ist äußerst monoton, ohne herzliche, feinere, interessante Wendung, voll der plattesten Fortschreitungen“. Nach Weber handelt es sich um „eine völlig verfehlte Komposition vor uns“ und er findet es bedauerlich, dass „ein solches Lied seinen Einzug in katholische Gotteshäuser halten konnte“. Gleichzeitig hofft er, „dass dem groben Unfuge, ein solches Machwerk in Kirchen zur Aufführung zu bringen, ein Ende gemacht werde“.

Fünf Jahre nach Webers ätzender Kritik hat der frühere Eichstätter Domkapellmeister Dr. Wilhelm Widmann (1858-1939) mit Hinweisen auf die liturgischen Grundlagen den Text ausdrücklich verteidigt. In der Zeitschrift „Der Kirchenchor“ konfrontiert Widmann im Jahr 1902 die Gedanken von „Stille Nacht“ mit dem Weihnachtsoffizium und stellt eindeutige Übereinstimmungen fest. In der Zusammenfassung seiner Untersuchung betont er, dass der Inhalt des Liedes nicht nur „vollkommen korrekt“ sei, sondern „sich durchaus mit Sätzen und Ausdrücken im Weihnachtsoffizium“ decke. Dem Lied seien also „im höchsten Grade die Eigenschaften eines katholischen Kirchenliedes“ zuzuerkennen.

Der Form nach stuft Widmann „Stille Nacht“ als „Wiegen- oder Krippenlied“ ein. Die Musik gilt ihm in melodischer und harmonischer Hinsicht als „höchst einfach und fasslich, ohne tief und meisterhaft zu sein“. Bemerkenswert ist Widmanns Schlussfolgerung: „So wie die Krippe mit ihrem Zubehör in der Kirche Platz haben darf, gehört auch unser Weihnachtslied in die Kirche, eignet sich aber wegen des musikalischen Rhythmus nicht für Massengesang und große Kirchen, sondern nur für kleine Verhältnisse.“