Eichstätt
Die Gewerkschaften in der Krise

Klaus Dörre sprach im Rahmen der K'Universale-Vorlesungen über Arbeitnehmersolidarität

20.11.2020 | Stand 23.09.2023, 15:34 Uhr
Per Livestream hat der Soziologe Joost van Loon (rechts) dem Gewerkschafts-Experten Klaus Dörre im Rahmen des K?Universale-Vortrags Fragen gestellt. −Foto: Screenshot EK

Eichstätt - Die interdisziplinäre Vortragsreihe K'Universale setzt sich in diesem Wintersemester mit Konzepten und Perspektiven der Solidarität auseinander.

In diesem Rahmen beleuchtete der Arbeits- und Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre von der Friedrich-Schiller-Universität Jena die Entwicklung gewerkschaftlicher Solidarität in Deutschland. Er stellte fest: Arbeitnehmersolidarität ist in Zeiten eines globalen, zunehmend digitalen Kapitalismus wichtiger denn je, muss sich aber erneuern, um aus ihrer gegenwärtigen Krise auszubrechen, und aktiv zu einer sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsrevolution beitragen.

Der Vortrag fand erneut per Livestream über die Youtube-, Facebook- und Zoom-Kanäle der Katholischen Universität statt und wurde vom Mitorganisator der Reihe, dem Soziologen Joost van Loon, moderiert. Er stellte Klaus Dörre als ausgewiesenen Experten für Gewerkschaften und die soziale Frage vor und fasste im Anschluss an den Vortrag die zahlreichen Fragen der digitalen Zuhörer zusammen, die großes Interesse an den Ursachen für den derzeit sichtbaren Erosionsprozess der Solidarität unter Arbeitnehmern erkennen ließen.

Dörre ging von einer grundsätzlichen Beobachtung aus, die er mit sieben Thesen erläuterte und abschließend in eine Konsequenz für das Profil künftiger Gewerkschaftsarbeit münden ließ. Einerseits stellte der Referent eine Zunahme der vertikalen Klassenungerechtigkeit fest, der auf der anderen Seite ein immer geringerer Organisationsgrad der Arbeitnehmer in Gewerkschaften entgegensteht: Gerade einmal 18 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer sind heute noch gewerkschaftlich organisiert. So gesehen kann man also durchaus von einer Krise der Gewerkschaften sprechen.

Gewerkschaftliche Solidarität sei als Spielart der Klassensolidarität stets universalistisch ausgerichtet, erklärte Dörre, zugleich aber zunehmend partikular. Denn Karl Marx hatte zwar einst die Proletarier aller Länder dazu aufgerufen, sich zu vereinigen, doch entfaltet sich die Arbeit der Gewerkschaften heute am erfolgreichsten auf Betriebsebene oder in den Grenzen des nationalen Wohlfahrtsstaates. Nach dieser ersten These wies Dörre in seiner zweiten auf die nach wie vor große Macht der Gewerkschaften hin: Diese verfügten neben der ökonomischen Macht, die zur Blockade des Produktionsprozesses eines Betriebs führen kann, auch über institutionelle Macht, wie sie sich immer wieder in den Tarifabschlüssen zeigt, und über Organisationsmacht, sofern ihre Mitglieder überzeugt und aktiv sind. Nicht zu unterschätzen sei aber auch die kommunikative Macht der Gewerkschaften, die in der Fähigkeit zu Bündnissen mit der Gesellschaft zu sehen ist, wie der Kita-Streik der Erzieher bereits mehrfach gezeigt habe.

Dennoch müssen sich die Gewerkschaften heutzutage den veränderten ökonomischen Bedingungen stellen, die in der Arbeitswelt zu scharfen Gegensätzen geführt hat. Einer schrumpfenden Welt noch intakter Arbeitsverhältnisse mit gesicherter Lohnarbeit in Vollzeit steht mittlerweile eine expandierende Welt der prekären Arbeitsverhältnisse gegenüber: Leiharbeit, Zeitarbeit, befristete Verträge und außertarifliche Niedriglöhne sprechen eine klare Sprache. Was Gewerkschaften dann nicht mehr erreichen, muss der Staat schaffen, wie etwa den gesetzlichen Mindestlohn.

Dörre wies in seiner vierten These auf die zunehmend exklusive, andere ausschließende Solidarität unter Arbeitnehmern hin, für die er Umfragen und wissenschaftliche Untersuchungen als klare Indikatoren benannte. In manchen Betrieben werden zum Beispiel Leiharbeiter als eine Gruppe betrachtet, mit der man nicht solidarisch sein müsse. Gerade an dieser exkludierenden Solidarität bieten sich Anknüpfungspunkte für rechtspopulistische Ideen, was besonders häufig im Osten Deutschlands zu beobachten sei.

Dass sich die Gewerkschaften heute in einer Art ökonomisch-ökologischer Zwangskrise befinden, belegte Dörre durch Zahlen und Statistiken: Der Teufelskreis besteht darin, dass die weltweiten Emissionen nur dann wirksam zu bremsen sind, wenn zugleich das Wirtschaftswachstum einbricht. Eine weltweite Rezession, wie sie bereits 2009 zu erleben war und sich auch jetzt im Corona-Jahr andeutet, stehe aber den ursprünglichen Interessen der Gewerkschaften diametral entgegen.

Daher stellte der Wirtschaftssoziologe in seiner sechsten These einen neuen sozial-ökologischen Transformationskonflikt fest, der den alten Klassenkonflikt längst abgelöst habe. So könnten in den nächsten Jahren in der reinen Automobilbranche ohne Zulieferer rund 300000 Arbeitsplätze wegbrechen und die IG Metall täte besser daran, statt ihrer konservierenden Interessenpolitik, die auf eine Erhaltung dieser Arbeitsplätze abzielt, auf eine neue Politik des Übergangs zu setzen und mit den Umweltverbänden zusammenzuarbeiten.
Daher forderte Dörre in seiner letzten These eine Umorientierung gewerkschaftlicher Arbeit und Solidarität: Gewerkschaften haben in Zukunft nur dann eine Chance, am ökologischen und sozialen Transformationsprozess mitzuwirken, wenn sie selbst "zu progressiven Akteuren einer sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsrevolution werden". Die Erschließung neuer Themen- und Arbeitsfelder im fundamental wichtigen Nachhaltigkeitsbereich führe die Gewerkschaften aus der aktuellen Krise heraus, prognostizierte Dörre.

Auch auf die Gefahr hin, sich bei seinem Eichstätter Publikum in der Nähe der Autostadt Ingolstadt unbeliebt zu machen, betonte der Referent in der abschließenden Fragerunde: "Auf Dauer müssen in Deutschland deutlich weniger Autos produziert werden. " Für frei werdende Arbeitskräfte aus dem Automobilsektor sah Dörre die Möglichkeit, künftig in den systemrelevanten Bereichen Pflege und Erziehung zu arbeiten, die derzeit noch sozial und ökonomisch unterbewertet seien und dringend einer gesellschaftlichen Aufwertung bedürften.

EK


Robert Luff