Geisenfeld
Zwei Tage stationär, weil der Facharzt nicht kommt

06.07.2010 | Stand 03.12.2020, 3:53 Uhr

"Da stimmt was im System nicht", sagt die Geisenfelder Altenheimleiterin Gertrud Enzinger, hier mit Altenpfleger Matthias Krotnew im Zimmer von Hans-Rainer Dollinger. Der 60-Jährige, der nach einem Schlaganfall ans Bett gefesselt ist, muss immer wieder mit dem Krankenwagen zum Facharzt gebracht werden, weil es sich für diesen nicht rechnet, seine Praxis für einen Besuch am Krankenbett zu verlassen. - Foto: Kohlhuber

Geisenfeld (DK) Milliardendefizit, Erhöhung der Kassenbeiträge – wenn Gertrud Enzinger solche Schlagworte hört, wird sie wütend. Als Leiterin des Geisenfelder Seniorenheimes kann sie etliche Beispiele aus dem Gesundheitswesen aufführen, bei denen völlig unnötig Kosten verursacht werden.

Gertrud Enzinger weiß, wovon sie spricht. Seit 20 Jahren ist sie als Heimleiterin in verantwortlicher Position in der Altenpflege tätig. Seit rund zwei Jahren hat sie neben dem Mainburger auch das Geisenfelder Caritas-Seniorenheim unter sich. Und wenn die 57-Jährige die derzeitigen Diskussionen um die gigantischen Defizite bei den Krankenkassen verfolgt, und wie hier gegengesteuert werden soll, dann kann sie "nur den Kopf schütteln".

Dabei, so Enzinger, könnten wohl -zig Millionen eingespart werden, wenn man nur ganz offensichtliche Fehler im System abstellen würde. Als erstes eklatantes Beispiel erzählt die Altenheimleiterin von einem Bewohner, der schon seit längerem im Wachkoma liegt und der über eine Kanüle im Kehlkopfbereich beatmet wird. Diese Kanüle müsse alle zwei Monate gewechselt werden, berichtet Enzinger, was nicht nicht der Hausarzt erledigen dürfe ("obwohl der das wohl genauso könnte"), sondern nur der Facharzt – also im konkreten Fall ein HNO-Mediziner.

Im Sanka zum Facharzt

Nun gibt es in Geisenfeld aber keinen HNO-Arzt. Der nächste hat seine Praxis 20 Kilometer entfernt, "aber der kommt nicht zu uns ins Heim, weil ihm die Pauschalen für solche externen Behandlungen mit Fahraufwand derart gekürzt wurden, dass er im Endeffekt draufzahlen würde", berichtet die Heimleiterin. Konsequenz: "Wir müssen den Wachkoma-Patienten mit dem Rettungswagen zur Praxis des Arztes und wieder zurück transportieren lassen", was – ganz abgesehen von der körperlichen Belastung für den Senioren – ein Vielfaches an Kosten verursache. Ebenfalls schon praktiziert worden sei aber auch eine noch wesentlich kostenintensivere Alternative: "Der Mann kam für das Kanüle-Wechseln auch schon mal für zwei Tage stationär ins Krankenhaus", wiederum samt Krankenwagen-Transport. "Auch das zahlen die Kassen anstandslos", lässt Enzinger wissen – "anstatt ganz einfach die Pauschalen für den Facharzt so anzupassen, dass er wieder solche Behandlungsfahrten unternehmen kann".

Wie dem genannten Wachkoma-Patienten ergeht es im Übrigen auch dem 60-jährigen Hans-Rainer Dollinger, der nach einem erlittenen Schlaganfall im Geisenfelder Seniorenheim betreut wird. "Wäre schön, wenn der Urologe zu mir kommen könnte", erzählt der ans Bett gefesselte Mann,, "aber leider muss ich mich immer mit dem Krankenwagen zu ihm bringen lassen".

Doppelter Blut-Check

Ein zweiter kostentreibender Missstand, den man nach Einschätzung Enzingers leicht beseitigen könnte, sind die "immer mehr werdenden Doppeluntersuchungen". Konkret: Ein Bewohner wird krank, und der Hausarzt muss kommen. Der untersucht den Patienten, nimmt Blut für einen Laborcheck, und die Diagnose ergibt dann, dass der Senior zur Behandlung ins Krankenhaus muss. "Und was passiert dort? Die machen, so höre ich von meinen Leuten immer wieder, dieselben Untersuchungen nochmals – warum, das kann man sich denken", sagt Gertrud Enzinger, die mit ihrer Auflistung aber noch lange nicht fertig ist.

So führt sie aus ihrer tagtäglichen Berufspraxis im Altenheim zwei Beispiele an, wo "durch Sparen an der falschen Stelle spätere Kosten in mehrfacher Höhe erst produziert werden". So seien, Beispiel eins, die Erstattungen für krankengymnastische Behandlungen nach einem Schlaganfall gekürzt worden – mit der Folge, dass oft ein Vielfaches an Geld für Schmerz- und Hilfsmittel aufgewendet werden muss.

Unnötiges Wundliegen

Ebenso "unsinnig" sei es, so Enzinger, dass spezielle Matratzen, mit denen das Wundliegen vermieden werden kann, von den Kassen erst bezahlt werden, wenn der Pflegepatient schon wund gelegen ist, und nicht bereits zur Vorbeugung. Auch hiermit verursache man oft enorme Folgekosten.

"Irgendetwas stimmt in unserem System nicht", meint die 57-Jährige, wenn trotz stetig steigender Kassenbeiträge auch bei der medizinischen Versorgung von Heimbewohnern stetig Leistungen gekürzt würden, wie seit sechs oder sieben Jahren verstärkt zu beobachten. "Da müssen sich meine Senioren jetzt ihre benötigten Abführmittel selber kaufen oder auch Schleimlöser, wenn sie chronisch verschleimt sind."

Man müsse es so deutlich sagen, bilanziert Enzinger, "aber wir haben hier unter den Heimbewohnern zwei Klassen: Solche, die sich ihre Medikamente leisten können, und solche, die sich mit einer schlechteren Versorgung abfinden müssen."

Dazu zählt Enzinger viele der derzeit zwölf Heimbewohner, bei denen ein Teil der Heimkosten nur über die Sozialhilfe gedenkt werden kann. "Die bekommen 96 Euro Taschengeld im Monat. Einmal mit dem Taxi zum Arzt, und die Hälfte davon ist weg."