Ingolstadt
Zuwendung statt Druck

In der Villa Johannes ist der Caritas jeder suchtkranke Mensch willkommen – Die Besucher schätzen die Freiwilligkeit

10.12.2013 | Stand 02.12.2020, 23:19 Uhr

Arbeitsplatz in der Villa Johannes: Die Besucher kuvertieren Glückwunschkarten - jeder in seinem Tempo. Die Arbeit ist freiwillig, aber die Leute haben Spaß und verdienen so ein wenig Geld. Sozialpädagogin Silvia Kopp (links) steht immer bereit, falls es Probleme gibt. An der Wand hängt ein Adventskalender aus alten Socken. Recycling wird bei der Caritas eben großgeschrieben - Fotos: Rössle

Ingolstadt (DK) In der Villa Johannes hängt an der Wand ein Adventskalender mit 24 alten Socken. Ausgeleiert und verfärbt. An der Ferse durchgescheuert oder mit einem großen Loch vorne. Socken, die ausgedient haben. Aber hier steckt in jeder eine Überraschung, auf die sich die Menschen freuen.

Dieser Recycling-Adventskalender zeigt symbolisch, was Wertschätzung bedeutet – und wie sie in der Villa Johannes gelebt wird. Ein Ort, an dem jeder willkommen ist – selbst wenn er ganz unten gelandet ist und bloß seinen Rausch ausschlafen will: Die Einrichtung der Caritas an der Gaimersheimer Straße ist eine Anlaufstelle für suchtkranke Menschen – vornehmlich mit Alkoholproblemen. Sie bekommen hier Rat und Hilfe, warmes Essen, können einfache Arbeiten verrichten oder mit anderen reden und werden weiter vermittelt in geeignete Angebote.

Jeder kann kommen und gehen, nach Lust und Laune. Jeder kann arbeiten, solange er mag – oder es sein lassen. „Die Freiwilligkeit ist unser wichtigstes Alleinstellungsmerkmal“, erklärt Sozialpädagogin Silvia Kopp. Eines gilt: An diesem Ort wird kein Alkohol getrunken. „Wenn einer mit drei Promille zu uns kommt, dann stehen wir aber nicht mit erhobenem Zeigefinger da. Er muss nur nach einer gewissen Zeit ins Röhrchen blasen, damit wir sehen, dass sein Pegel gesunken ist“, erklärt Kopp. „Wir weisen niemanden ab, der eine Suchterkrankung hat.“

Teddy Ogie fand erst vor Kurzem in die Villa Johannes. Er kuvertiert gerade zusammen mit anderen Besuchern Glückwunschkarten. Nebenher dudelt das Radio. Das Leben hat dem 47-Jährigen übel mitgespielt: „Meine Tochter starb – damit fing alles an“, erzählt er. „Ich bekam eine Depression und fing an zu trinken.“ Es ging bergab. „Ich muss sehr, sehr starke Medikamente nehmen. Ohne Tabletten kann ich gar nicht mehr schlafen. Ich hab’ auch oft Angstattacken.“

Teddy sagt, seit fünf Monaten trinke er nicht mehr. „Wenn ich allein zu Hause bin, ist es ganz gefährlich. Deshalb komme ich her. Hier kann ich mit anderen reden und mich beschäftigen. Wir sind wie eine Familie. Ich fühle mich sehr, sehr wohl hier.“ Er denkt kurz nach und sagt dann: „Hier behandeln sie dich wie einen Menschen.“

An der Bar sitzt Harry Bernhard und spielt Didgeridoo. Agnes Schmidt, die Frau hinter der Theke, und Rufin-Josef Lubojanski hören zu. Der 54-jährige Rufin, ein Bergwerksschlosser, besucht schon seit ungefähr drei Jahren die Villa Johannes. Er wohnt in den Obdachlosenunterkünften am Franziskanerwasser und hat gerade Ärger am Hals. „Was ich hier mache, ist mein Beruhigungsmittel. Da bin ich mal weg von den ganzen Problemen.“ Er meint: „Leute wie wir stehen am Scheideweg. Da ist guter Rat mehr wert als hundert Euro. Die Leute vom Team verstehen uns, hören uns zu und geben uns wunderbare Ratschläge.“

Die Atmosphäre in der Villa Johannes gefällt Rufin. „Ich esse auch gerne hier und verdiene etwas Geld. Denn ich schäme mich, auf Kosten der Stadt zu leben. Dazu bin ich zu stolz.“ Trotz seiner prekären Lage hat der Mann den DONAUKURIER abonniert. „Ohne die Zeitung kann ich nicht leben – die ist das Beste, was ich habe. Lieber esse und trinke ich weniger und hole mir Sachen von der Kleiderkammer.“ Die eigene Zeitung bedeutet ihm Würde und Teilhabe am Geschehen: „Da finde ich wichtige Informationen über Sport oder Wirtschaft und Wohnen. Ich möchte dringend weg vom Franziskanerwasser. Und ehrlich gesagt fehlt mir auch die Arbeit.“

Wer arbeiten will, der geht in der Villa Johannes auch mal in den Keller. So wie Ade Weber und Werner Müller: Die beiden Männer verrichten für einen Euro pro Stunde Montagearbeiten für Rieter. „Das sind Schläuche für Webstühle“, erklärt Ade. Zum Mittagessen kommt er nach oben, löffelt mit ernstem Gesicht seine Kürbissuppe. Eine Mahlzeit kostet 1,50 Euro. Wer kein Geld besitzt, kann anschreiben lassen. „Wir schicken niemanden hungrig weg“, sagt Kopp. Um die Mittagszeit wird es in der Villa Johannes plötzlich voll und eng – aber auch ganz still. Es tauchen auch Frauen und Kinder auf. „Den Angehörigen steht das Haus offen“, erklärt Silvia Kopp.

So kam auch Agnes Schmidt zur Villa Johannes. „Ich bin ein gebranntes Kind“, deutet sie vorsichtig an. Sie habe früher nicht in den Spiegel schauen können, weil sie glaubte: „Ich bin nichts und ich kann nichts.“ Dann besuchte sie die Angehörigengruppe der Anonymen Alkoholiker, und dort lernte sie, dass sie kein Nichts ist und auch etwas kann. „Ich fühl’ mich jetzt sicher und will was weitergeben. Ich kann mit den Alkoholikern reden, denn ich kenn’ mich ja aus und verstehe ihre Sprache.“ Agnes schmunzelt: „Früher hab’ ich hier geputzt – jetzt bin ich Barchefin.“

Etwa 50 Leute kommen täglich in die Villa Johannes. „Lebenshilfe ist bei uns ganz wichtig – und zwar jetzt und sofort“, meint Silvia Kopp. Aber auch das Team kann Hilfe gebrauchen – von Ehrenamtlichen. „Wir suchen dringend stundenweise Freiwillige für unseren Fahrdienst, denn wir holen die Leute vom Franziskanerwasser ab, damit sie nicht eineinhalb Stunden zu Fuß zu uns laufen müssen.“

Unterstützung benötigt das Caritas-Team außerdem, um nächstes Jahr einen Traum zu verwirklichen: das Stadtfarmen. „Wir möchten Obst und Gemüse anbauen und, wenn möglich, in unserem eigenen Laden verkaufen“, erzählt Kopp. „Dafür brauchen wir aber die Hilfe eines versierten Gärtners. Und Spenden für ein Gewächshaus.“ Die Arbeit geht also nicht aus. Die Wünsche auch nicht.