Lange vor Erfindung des Internets fegt 1929 der erste Ingolstädter Shitstorm über die 27-jährige Marieluise Fleißer hinweg.
Die Autorin hat soeben unter tätiger Mithilfe Brechts dem Berliner Theaterpublikum vorgeführt, wie es so zugeht bei den indigenen Völkern dort unten an der Donau und speziell, was in der bayerischen Kleinstadt Ingolstadt läuft, mit Sex und so zwischen geilen Pioniersoldaten und ihrer ortsansässigen weiblichen Beutezielgruppe. Da geht es bei der Darstellung des Trieblebens auf der Bühne am Schiffbauerdamm so heftig zur Sache, dass im Zuge einer brutalen Entjungferung die Requisiten wackeln. Nichts für zarte Gemüter, kein Platz für Sentimentalitäten. Anschließend wird nüchtern Vollzug gemeldet. "Ich meine halt", lässt die Fleißerin zwar das Dienstmädchen Berta nach dem "ersten Mal" sagen, "wir haben was Wichtiges ausgelassen. Die Liebe haben wir ausgelassen. " Aber dem Pionier Karl hat bei der sexuellen Verrichtung nichts gefehlt: "Eine Liebe muss keine dabei sein. "
Osterspaziergänger, die im Frühling 2021 an der Pionierbrücke über den Künettegraben vorbeigekommen sind, werden sich kaum eine Vorstellung davon gemacht haben, welche Sprengladung das Fleißer-Stück "Pioniere in Ingolstadt" 1929 für die Heimatstadt im Gepäck hat. Denn dass ein OB heute gegen das "verleumderische Machwerk" einer einheimischen Dichterin bundesweit zu Felde zieht, würde ihm politisch wohl nicht gut bekommen. Zum Glück ist ja die Gefahr, dass ein aktuelles Bühnenwerk aus Ingolstadt derzeit überhaupt das Zeug dazu hat, einen deutschlandweiten Theaterskandal zu provozieren, ohnehin nicht übermäßig groß. Damals jedoch ist man in der Stadt der Pioniere völlig außer sich über das, was die Fleißer mit ihrer Sauerei auf der Bühne angerichtet hat.
Dabei hätte doch gerade die gute alte Schanzer Festungstradition einen reichhaltigen, fachlich wie moralisch einwandfreien Wortschatz geboten, um ein ganzes Liebesdrama zu bestücken. Er: "Geliebte, lass mich deine Flankenbatterie aufladen! " Sie: "Meine Brustwehr widersteht jedem Angriff. " Er: "Ich kann es kaum erwarten, dass du heute Abend in die Remise kommst. " Sie: "Aber glaub bloß nicht, dass du mich so schnell auf die Kasematte legst! "
rh
