Ingolstadt
Zukunft des Gymnasiums: "Stärken sollen mehr zur Geltung kommen"

Michael Schwägerl, der neue Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbands, über die Zukunft des Gymnasiums

21.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:27 Uhr

Entdecken, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das Interesse der Schüler für die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) zu wecken, ist das Ziel zahlreicher Initiativen und Projekttage - wie hier vergangene Woche am Ingolstädter Katharinen-Gymnasium. - Fotos: Eber, Silvesterl

Ingolstadt (DK) Er tritt sein Amt in bewegten Zeiten an: Im November 2016 wählten die Delegierten des Bayerischen Philologenverbands (BPV), die Berufsvertretung der Gymnasiallehrer, Michael Schwägerl zu ihrem neuen Vorsitzenden. Da hatten die Querelen um das 2004 eiligst eingeführte achtjährige Gymnasium (G 8) einen Höhepunkt erreicht - mal wieder, muss man sagen.

Der von Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) initiierte Dialogprozess über die Zukunft des Gymnasiums verstärkte den Eindruck, dass sich das G 8 zum Auslaufmodell entwickelt hat. Vieles deutet auf die Einführung eines einheitlichen G 9 hin, aber die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Schwägerl (53), Lehrer für Mathematik, Physik und Informatik aus Mittelfranken, erläutert im Gespräch mit unserer Zeitung die Prämissen seines Verbands für ein neues G 9.

Herr Schwägerl, das Gezerre um die Zukunft des Gymnasiums geht weiter. Ministerpräsident Horst Seehofer drängt auf die Rückkehr zu einem G 9. Vergangene Woche hat er dazu einen Kabinettsausschuss eingesetzt. Damit erhöht er den Druck auf die CSU-Landtagsfraktion. Die will sich mit ihrer Entscheidung bis Ostern Zeit lassen, weil sie noch Fragen an den Kultusminister hat. Was könnte das wohl sein?

Michael Schwägerl: Im Endeffekt ist in der vergangenen Dialogphase alles auf den Tisch gelegt worden, was an Fragen auftauchen kann. Mir sind Fragen beziehungsweise Wünsche und Forderungen von anderen Schularten zugetragen worden, deren Probleme und Herausforderungen nicht vergessen werden dürfen und jetzt mitberücksichtigt werden sollen, um einen Bildungspakt zu schließen. Aber die Herausforderungen in den anderen Schularten waren bekannt! Das ist nichts Neues. Neu ist, dass sie jetzt verknüpft werden mit der Entscheidung G 8/G 9.

 

Im G 8 sieht man das Problem, dass in den Pflichtabiturfächern Mathematik und Deutsch die starken und die schwachen Schüler in einem Kurs sitzen - die einen sind oft unterfordert, die anderen überfordert. Ihr Verband schreibt jetzt: "Wir brauchen verstärkte Bestrebungen zu einer gezielten Förderung auch begabter, leistungsstarker Schüler." Das klingt fast nach den mit dem G 9 abgeschafften Leistungskursen. Ist es angedacht, in der Oberstufe wieder mehr zu differenzieren?

Schwägerl: Das ist ein Punkt, der in der Diskussion ist. Ganz klar. In der gemeinsamen Presseerklärung des Bayerischem Philologenverbands, der Bayerischen Direktorenvereinigung, der Landeselternvereinigung und der Landesschülersprecher haben es die Schüler zur Sprache gebracht: Individuelle Stärken sollen wieder mehr zur Geltung kommen, und da sind wir mit dabei. Wir sehen die starke Standardisierung in der Oberstufe auf einem relativ einheitlichen Niveau für alle mit Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache - das war eine Reaktion auf die überstarke Spezialisierung in den Leistungskursen davor.

 

War die Spezialisierung im G 9 wirklich überstark?

Schwägerl: Die war am Ende eingedämmt, doch in der Anfangsphase der Kollegstufe war alles möglich. Andere Bundesländer sind da noch weiter gegangen als Bayern. Dennoch kam mir die Standardisierung im G 8 wie eine Überreaktion vor. Die Stärken der Schüler und die Profilierung, die ja eigentlich durch die Zweige im Gymnasium angelegt ist, werden in der Oberstufe überhaupt nicht mehr sichtbar. Hier sollte man nach einer besseren Lösung suchen! Mit der heutigen Struktur wird deutlich, dass zum Beispiel naturwissenschaftliche Fächer insofern benachteiligt werden, als sehr wenige Schüler in diesen Fächern schriftliches Abitur machen und deshalb das Profil eines naturwissenschaftlich-technologischen Gymnasiums im Abitur nicht mehr zum Ausdruck kommt.

 

Sagt der Mathematiklehrer Schwägerl.

Schwägerl: Sagt der Mathematiklehrer. Aber das Gleiche gilt natürlich auch für sprachbegabte Schüler oder für welchen Zweig auch immer. Darüber noch mal nachzudenken, wie man dieses Profil stärker zum Ausdruck bringen kann, halte ich für eine gute Aufgabe.

 

Um ein salopp formuliertes Beispiel zu bringen: Im G 8 versaut sich der angehende Physiker mit "Minna von Barnhelm" den Schnitt und der angehende Germanist mit der E-Funktion.

Schwägerl: So kann man es natürlich plakativ ausdrücken. Die Differenzierung ist auf jeden Fall ein heißes Eisen. Da hat auch der Philologenverband noch keine abschließende Meinung. Viele sagen: "Ein Abitur ohne schriftliche Prüfung in Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache wäre undenkbar!" Das ist die eine Position. Die andere ist die, die Sie genannt haben: Stärken der Schüler fallen unter den Tisch. Irgendwo dazwischen wird die Wahrheit liegen.

 

Ihr Verband fordert ein "ganzheitliches Gymnasium". Das klingt etwas esoterisch. Was meinen Sie damit?

Schwägerl: Das ist dem Vorschlag geschuldet, einfach eine 11. Jahrgangsstufe reinzuschieben, die für sich steht, ohne Zusammenhang mit dem Lehrplan. Aber der Bayerische Philologenverband denkt an ein Gymnasium aus einem Guss, das von neun Jahren her gedacht wird. Diese neun Jahre sehen wir als Ganzes - und darauf sollen die Unterrichtsinhalte gut verteilt werden - dem Reifegrad der Schüler angemessen.

 

Trotz Ihres "Gymnasiums aus einem Guss" sagen Sie, dass es weiterhin die Möglichkeit geben müsse, nach acht Jahren Abitur zu machen. Das ist organisatorisch schwierig, vor allem in kleinen Schulen mit mehreren Zweigen. Wollen Sie sich wirklich auf das Wagnis G 8-Zug und G 9-Zug einlassen? Erzeugt das nicht neue Komplikationen?

Schwägerl: Ich denke, diese Überholspur, wie sie in der Politik genannt wird, ist möglich. Das Überspringen einer Klasse gab es immer schon. Der Unterschied zu früher sollte darin liegen, dass man das begleitet und unterstützt. Da sind wir bei unserem Förderkonzept, das nicht nur für die leistungsstarken Schüler eine Rolle spielen kann. Wir wollen, dass durch ein verstärktes Wahlkursangebot plus Angebote am Nachmittag, also MINT, Musik et cetera, eine Situation geschaffen wird, die auch für alle anderen Schüler von Interesse ist und sie entsprechend ihren Begabungen und Neigungen fördert. Und für die Gruppe, die das in einer kürzeren Zeit schafft, werden Inhalte angereichert. Das erlaubt es ihnen dann, eine Jahrgangsstufe auszulassen. Das ist unser Grundgedanke: ein Beratungs- und Unterstützungssystem.

 

Nun ein Gedankenspiel: Wenn es im Sinne Ihres Verbandes ideal läuft, wie wird dann das bayerische Abitur 2027 aussehen?

Schwägerl: Das wage ich noch gar nicht zu sagen. Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache werden immer eine Rolle spielen! Die entscheidende Frage ist: In welcher Form wird das abgeprüft? Das wird eine Diskussion geben, von der ich nicht weiß, wie sie ausgeht.

 

Das Gespräch führte Christian Silvester.