Die Sanierung des Fleißerhauses in Ingolstadt ist nahezu abgeschlossen. Das mittelalterliche Gebäude hat seine Authentizität bewahrt. 2019 wird es als Museum mit neuem Leben erfüllt. War es einst Bauhütte der Oberen Pfarr?
Wie ein Schmuckstück glänzt es in der Kupferstraße. Eine freundliche Fassade in hellem Grau, Fenster spiegeln im Sonnenlicht, die hellen Räume wirken freundlich, das moderne Treppenhaus mit dem Fahrstuhl setzt neue Akzente, der schöne Innenhof, der noch begrünt werden soll. Das Geburtshaus der Marieluise Fleißer hat sich in den vergangenen Jahren aus Schichten von bröseligem Putz, hässlichem Linoleum, schäbiger Teppichware, losen Brettern geschält und erstrahlt nun in der schlichten Schönheit einstiger Tage. Noch gehen die Handwerker ein und aus, um die letzten Arbeiten zu verrichten, aber der Bauzaun ist schon weg. Manchmal stehen die Türen offen, dann werfen ganz Neugierige einen Blick ins Innere: Wann wird das Museum eröffnet? Sind noch Mietwohnungen frei? Auch zwei Besucher aus Berlin schauen sich schon einmal um: Sie bereiten in der Reihe „Literatur an Ort und Stelle“ ein Seminar über Marieluise Fleißer vor – dazu gehört selbstredend ein Besuch im sanierten Geburtshaus der bekannten Schriftstellerin aus Ingolstadt. Wo ist denn die berühmte Altane aus ihren Stücken? Fleißer-Neffe Hermann Widmann führt Gäste gern herum. Keiner kennt das Haus so wie er, kennt die Geschichte und Geschichten von seiner Tante Luise.
Im Jahr 1861 erwarb der Geschmeidemacher Andreas Fleißer das Haus, das aus dem frühen 16. Jahrhundert stammen soll. Im Erdgeschoss richtete Fleißer, Widmanns Urgroßvater, eine Schmiedewerkstatt ein. „Die Türbeschläge hat vermutlich er selber geschmiedet“, sagt Widmann und fährt mit den Fingern über die starken Angeln. Die Tür ist etwas breiter, weil die Kunden seinerzeit auch ihre großen Waagen in die Werkstatt brachten – Kartoffelwaagen, Kohlewaagen, Viehwaagen. „Die Betonplatte stammt von damals: Sie ist genau eben, weil die Waagen dort justiert wurden. Unter der Werkbank lagen die Zentnersteine. Jeden Dienstag ging’s zum Eichamt. Ich hab’ als Bub alles mitgemacht“, sagt Widmann.
Alles ist so geblieben – die Werkstatt wurde nicht saniert. „Noch zu Zeiten meines Opas gab es einen handbetriebenen Blasebalg; den mussten die Lehrlinge bedienen, während mein Opa und der Geselle mit den Hammern geschlagen haben. Das klang wie ein Glockenschlag, ein Ding-Dong, das durchs ganze Haus ging“, erzählt Widmann. Er weiß noch genau, wo der Sandstein stand, die Poliermaschine oder der Schleifautomat für die Kreissägen. Leider ist der Platz für den Amboss leer: Das 200 Kilogramm schwere Teil wurde 2017 gestohlen. Widmann hat eine Belohnung ausgesetzt: Er will die Diebe nicht belangen, nur das Familienerbstück zurückbekommen.
Auf einem Mauervorsprung, unter einer Schicht aus Staub und Spinnenweben, liegt eine alte Kartoffelhaue. Solches Gerät wurde im Fleißer-Laden verkauft, der sich samt dem Lager ursprünglich im ersten Stock befand, später im Erdgeschoss: „Die Regale waren bis zur Decke voll mit Nägeln, Beschlägen, Haushaltsgeräten, Gartengeräten“, beschreibt Widmann die Szenerie. „In der Mitte stand der alte Ladenbuddel.“ Kaum vorstellbar, wie das alles in so einen kleinen, niedrigen Raum passte, der jetzt vollkommen leer ist.
Ein Blick in die kleine Küche, ins frühere Wohnzimmer. Widmann zeigt, wo damals Schreibtisch, Esstisch, Sofa und das Büffett standen. Und die Kommode vom alten Rechtsrat Ostermair. Dann geht es weiter ins schmale Kinderzimmer, ein Durchgangszimmer. „Hier im Türrahmen hingen, wie von meiner Tante beschrieben, zwei Stangen mit Vorhängen: einer oben, einer unten. Da haben wir Kinder Kasperltheater gespielt, das war eine Tradition. Meine Tante hat geschrieben, dass sie von den Nachbarskindern einen Pfennig gekriegt hat“, sagt Widmann und lacht: „Wir haben nix gekriegt.“ Weiter geht es ins Elternschlafzimmer: „Dort sind wir alle zur Welt gekommen.“
Alle Räume sind schlicht gehalten, nichts wurde groß verändert. Die Hausbesitzer waren lange auf der Suche nach dem passenden Architekten, fanden ihn schließlich beim Tag des offenen Denkmals in Plankstetten: Das Büro Kühnlein aus Berching war für die Sanierung und Erweiterung der dortigen Benediktinerabtei verantwortlich. Architekt Michael Kienlein vom Team Kühnlein beschreibt die Herausforderungen beim Fleißerhaus: „Wir wollten das Gebäude in seiner Authenzität belassen und ihm nichts überstülpen. Darum nehmen wir uns als Architekten zurück: Das, was da ist, unterstreichen wir. Das Haus soll seine Ausstrahlung behalten.“
Der Versammlungsraum im zweiten Geschoss ist das Prunkstück: Unter Brettern kam die alte Decke mit mächtigen Holzbalken zutage. Ein Restaurator hat den Originalputz aus dem Jahr 1550 freigelegt: Seinen Vorgaben folgend ist die Decke nun wieder mit auffälligen breiten Farbstreifen verziert. Das Rosa stammt von Ochsenblutfarbe – ein zu der Zeit gebräuchlicher Anstrich. In diesem Raum will die Fleißer-Gesellschaft im November ihre Jahresversammlung abhalten. Vorsitzender Kurt Finkenzeller ist begeistert vom Flair des Gebäudes: „Das ist vom Feinsten, das hat Charme und auch Substanz bekommen. Hier liegt nun eine große Chance, das kulturelle Leben der Stadt zu bereichern.“
Lesungen möchte die Fleißer-Gesellschaft an diesem Ort veranstalten: „Literatur vermitteln“, wie Finkenzeller betont, „auch aus dem frühen 20. Jahrhundert. Kritische Volksstücke.“ Musikveranstaltungen sind ebenfalls geplant, wobei an der Akustik noch gefeilt werden muss. Der große Raum war zuvor unterteilt, in dem kleineren Zimmer lebten früher, so erinnert sich Widmann, sein Urgroßvater, nachdem er die Schmiede dem Sohn übergeben hatte, und später Tante Luise. Sie beschreibt den Blick aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Innenhof der Münsterschule, den die Mädchen besuchten. „Gegenüber stand das Bäckerhaus, und über der Backstube hat der Kunstmaler Knut Schnurer gelebt“, so Widmann.
Im Zuge der Sanierung stießen die Architekten auf Hinweise, die vermuten lassen, dass das Haus wesentlich älter ist als angenommen. Dendrochronologische Untersuchungen der Holzbalken ergaben, dass das Haus bereits im Jahr 1401 errichtet wurde – auf herzoglichem Grund. Es wurden Ofen- und Wandkacheln entdeckt, die laut Widmann zwei Bilder zeigen: den geflügelten Löwen und die Sonnenspiegel, das Wahrzeichen des Königs von Frankreich, das auch Ludwig der Gebartete nutzte. Den Architekten fiel zudem auf, dass es sich um ein für damalige Zeiten sehr herrschaftliches Gebäude handelte: Die Räume sind groß, der Dachstuhl über zwei Ebenen ist in seiner Ausführung sehr hochwertig. Am Giebel der Kupferstraße 16 ist außerdem ein Kreuz zu sehen – das Zeichen für kirchliche Gebäude. „Wenn man alles zusammennimmt“, so Widmann, „ist es wahrscheinlich, dass es sich um die Münsterbauhütte handelt.“
Die Obere Pfarr wurde 1407 gegründet, der Bau der herzoglichen Kirche zog sich bis 1525 hin. „Danach gab es für das Haus keine Verwendung mehr“, so Widmann. In der Ingolstädter Denkmaltopographie ist als erster Besitzer 1613 der Schlosser Andreas Limbach aufgeführt. Das Fleißerhaus – einstmals Kirchenbauhütte? Das wäre eine kleine Sensation – und ein weiteres Kapitel in der bewegten Geschichte dieses Gebäudes.