Wo ist Merkels Instinkt?

Kommentar

15.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:57 Uhr

Die Suppe hat die Bundeskanzlerin sich selbst eingebrockt. Und beim Auslöffeln macht Angela Merkel keine gute Figur. Sie hat also tatsächlich dem Antrag der türkischen Regierung stattgegeben und grünes Licht für ein Verfahren gegen den Satiriker Jan Böhmermann gegeben.

Wohlgemerkt: In der Causa gilt die Unschuldsvermutung, dass Böhmermann wegen der Beleidigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verurteilt wird, ist sehr unwahrscheinlich.

Darum geht es aber letztlich auch gar nicht. Merkel sendet mit ihrer Entscheidung das fatale Signal aus, sie knicke aus Angst vor dem Zorn Erdogans und in der Sorge um den Flüchtlingsdeal mit Ankara ein. Zudem stellt sie damit zentrale Grundwerte zur Disposition.

Daran ändert auch ihr unsouverän vorgetragenes Plädoyer für Menschenrechte und ihre Besorgnis über die Lage in der Türkei nichts. Ihr merkwürdiges Rechtsstaats-Seminar klang hohl. Und dafür ist sie ganz allein verantwortlich. Sie hat sich mit ihrem Anruf bei Erdogan in diese unmögliche Situation gebracht. Es ist nicht ihre Sache, Kunst und Satire öffentlich zu bewerten. Indem sie aber erklärte, Böhmermanns Schmähgedicht sei "bewusst verletzend", hat sie Erdogan erst animiert, den alten, im modernen Rechtsstaat nicht mehr zeitgemäßen Paragrafen 103 ausgraben zu lassen und von ihr zu verlangen, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Wo ist bloß der einst so sichere politische Instinkt der CDU-Chefin geblieben?

Vollends skurril wird die Geschichte durch Merkels Ankündigung, den Paragrafen aufzuheben - nachdem sie gerade dessen Anwendung zelebriert hat. Es wäre klüger gewesen, Merkel hätte schon bei ihrem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoglu auf die Meinungs- und Satirefreiheit gepocht und Ankara an die Justiz verwiesen.

Letztlich strebt Erdogan ohnehin eine Privatklage an. So aber hat Merkels Image abermals gelitten. Das Klima in der Koalition - die zuständigen SPD-Minister sind auf Konfrontationskurs gegangen - kühlt sich jeden Tag, an dem die Bundestagwahl näher rückt, unvermindert ab. Satiriker Böhmermann indes kann auf die deutschen Gerichte setzen, für die die Satirefreiheit einen großen Stellenwert hat. Und Erdogan, der dem Gedicht zu größtmöglicher Aufmerksamkeit verholfen hat? Er wird wohl bald erneut beleidigt sein.