Wo geht’s hier bitte aus dem Chaos?

07.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:59 Uhr
THI −Foto: Stefan Eberl

Ingolstadt (DK) Studierende der Technischen Hochschule (THI) haben die Verkehrsmisere in Ingolstadt analysiert und detaillierte Verbesserungsvorschläge erarbeitet. Ihr Fazit: Man muss nicht immer Straßen bauen, um die Situation zu entspannen. Kompliziert bleibt diese Aufgabe dennoch. Hoch kompliziert.

Nur ein paar Zahlen. Die Studierenden der TH projizieren sie an die Wand, um zu verdeutlichen, wie dringend der Handlungsbedarf inzwischen ist. Vier Statistiken genügen schon, um die Überfüllung und das Chaos auf vielen Ingolstädter Straßen während des Berufsverkehrs wissenschaftlich-präzise zu erklären: Von 2000 bis 2016 wuchs die Bevölkerung Ingolstadts um 14,4 Prozent auf fast 140 000 – das ist ein Plus von 1,4 Prozent jedes Jahr. Zwischen 2010 und 2016 stieg in Ingolstadt die Zahl der Pkw um 20 Prozent auf fast 95 000. Das bedeutet: Auf 1000 Ingolstädter kommen 716 Pkw. Landesweit sind es nur 592 Pkw je 1000 Einwohner. Insgesamt waren in Ingolstadt 2016 mehr als 107 000 Kraftfahrzeuge angemeldet. Die Konsequenzen lassen sich werktags auf vielen Straßen besichtigen.

Die Studierenden Anja Marxer, Anna Weinfurter, Philipp Gillich und Raphael Kirn liefern in ihrer Präsentation noch mehr überaus bezeichnendes Datenmaterial: Täglich pendeln 61 000 Werktätige nach Ingolstadt, aber nur 18 000 verlassen die Stadt zum Arbeiten. Das heißt: Jeden Tag sind 42 600 Menschen zusätzlich in Ingolstadt. Im Berufsverkehr quälen sie sich über verstopfte Straßen. Hauptstoßzeiten (die Wissenschaft spricht vom „peak“) sind 7 bis 8.15 Uhr und 14.30 bis 18.30 Uhr „Fast ein Fünftel der Pendelzeit verbringen sie im Stau“, erklären die Referenten. „Deutschlandweit ist das Platz 39, weltweit Platz 490.“ 

Es geht also noch schlimmer. Allerdings sollten Molochs wie Mexico City oder Neu Delhi für Ingolstadt nicht unbedingt der Maßstab sein. Die Verkehrsstatistiken der Studenten transportieren eine große Botschaft: Da muss man was tun.

An der THI sind sie längst dabei. Die jungen Leute, die bei Prof. Harry Wagner Automotive and Mobility Management studieren, wissen: Irgendwer wird immer dagegen sein, irgendetwas verkompliziert die Sache jedes Mal. Und wenn die Konzepte endlich auf dem Tisch liegen, tritt die Politik auf den Plan. Die Studierenden haben sich keinen Illusionen hingegeben, als sie sich auf die Suche nach Wegen aus der Verkehrsmisere in Ingolstadt machten, sondern ausschließlich Fakten. Mit wissenschaftlichem Anspruch.

Nicht alle der studentischen Verbesserungsvorschläge dürften in der Bevölkerung zu Jubelstürmen führen (etwa eine Brückenmaut im Berufsverkehr, siehe unten), aber ganz ohne unpopuläre Entscheidungen werde es eben nicht gehen, die Straßen spürbar zu entlasten. Diese Erkenntnis steht wie ein Leitmotiv über den Präsentationen; so sei das nun mal in einer rasant wachsenden Großstadt. „Man kann nie alle glücklich machen“, sagt Anna Weinfurter. Anja Marxer ergänzt: „Es kommt entscheidend darauf an, dass alle Maßnahmen ineinandergreifen.“ Nur so ließen sich in dem hochkomplexen System „Verkehr in einer urbanen Region“ nennenswerte Verbesserungen erzielen. „Und manchmal gibt es gar keine Lösung“, merkt der Professor an. Da müsse man die Realität akzeptieren, wie sie ist.

Dass der Weg von der Theorie in die Praxis vermutlich der schwerste ist, zeigt ein aktuelles Beispiel aus der Lokalpolitik: der Verkehrsentwicklungsplan für die Stadt Ingolstadt – aufwendig erarbeitet, mit Hoffnungen beladen und voller Euphorie gestartet. Doch schon das erste Vorhaben – Vorrangrouten für Radler zwischen der Adenauerbrücke und dem Südwesten via Parkstraße – droht, wie es ausschaut, gleich an der ersten Ampel zu scheitern. Die steht an der Haunwöhrer Straße, und man muss auf einen Knopf drücken, um Grün zu bekommen. Die Autos könnten zu lange Rot haben! Das würde den Verkehr „völlig zum Erliegen bringen“, klagte, wie berichtet, Bürgermeister Albert Wittmann (CSU) im Finanzausschuss. Andere Anhänger des motorisierten Individualverkehrs sehen ebenso schwarz. Ginge es nach ihnen, würden die Radler auf dem Weg nach Südwesten also genau so lange Vorrang genießen, bis sie zum ersten Mal Autos in die Quere kommen.

Der Fall lehrt ernüchternd: Es ist wirklich nicht einfach, auf Ingolstadts Straßen nennenswerte Verbesserungen zu erzielen. Aber die angehenden Verkehrsexperten der THI lassen sich nicht entmutigen. Bald legen sie ihre nächste kritische Analyse vor. Über die Defizite des Öffentlichen Personennahverkehrs. In Ingolstadt auch so ein Kapitel für sich.