Ingolstadt
"Wir wollten die Welt für uns erträglicher machen"

30.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:37 Uhr

Ingolstadt (sic) Schön war die Zeit. Und bleiern. Voller Verheißungen. In einem Kräftefeld konservativer Beharrung. Die Zukunft versprach gesellschaftliche Liberalität, Aufbruch zu neuen geistigen Horizonten - und das alles bei cooler Musik aus den USA. Doch im bundesdeutschen Alltag der späten 1960er-Jahre herrschte der autoritäre Geist von gestern. Gespenster der Vergangenheit kehrten zurück. Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) erlebte einen in jederlei Hinsicht atemberaubenden Aufstieg. Die Schulen setzten dem nichts entgegen; das "Dritte Reich" der Deutschen wurde dort ignoriert. Im Ingolstädter Reuchlin-Gymnasium zum Beispiel, damals eine fürchterlich faschistoide Lehranstalt, schwadronierten kriegserfahrene Lehrer dreist und völlig ungestraft über die Heldentaten des "Führers". In diesem Klima wurde Carl-Ludwig Reichert erwachsen. Es hat ihn sehr geprägt.

Wenn der 1946 geborene Ingolstädter heute über die späten sechziger Jahre erzählt, manövriert er zwischen zwei Welten: der neuen, aufregenden. Und der alten, spießigen. Reichert gehörte einem künstlerisch beseelten Kreis von Freunden an, die meist das Reuchlin (wie er) oder das Scheiner-Gymnasium besuchten. Sein jüngerer Bruder Gerd war dabei, ferner Karl Batz, Lukas Liebl, Hanns Zischler (aus dem ein bekannter Schauspieler wurde) und weitere interessante junge Leute, "Wir haben uns immer auf den Stufen vor dem Stadttheater getroffen. Im Sommer saßen wir an der Donau an einem Lagerfeuer." Sie lasen "experimentelle Zeitschriften" und hörten die Songs dieser Zeit. Bob Dylan. The Beatles. Jimi Hendrix. "Wir hatten alle die gleichen Interessen. Musik hat eine große Rolle in unserem Leben gespielt", erzählt Reichert, der selbst eine erfolgreiche Karriere als Musiker hingelegt hat (vielen unvergessen ist seine Band Sparifankal). Die jungen Intellektuellen pflegten außerdem ihre Liebe zu angesagter Literatur. Albert Camus etwa. Oder Jean Paul Sartre. "Alles Pazifisten". Was kein Zufall war. Reichert, ein geschätzter Lyriker, verehrte auch die Ingolstädter Schriftstellerin Marieluise Fleißer, "die damals, wenige Jahre vor ihrem Tod 1974, leider fast vergessen war"; Reicherts Eltern wohnten einst in der Theresienstraße über dem Tabakladen Josef Haindls, Fleißers Ehemann.

Die Schüler litten unter der reaktionären Verteidigung der alten Ordnung. "Ingolstadt war ganz schön hart damals. Wenn einem die Haare drei Zentimeter über die Ohren wuchsen, wurde man blöd angeredet." Für einen wie Reichert natürlich ein Ansporn, das Haar bald fast 30 Zentimeter über dem gutbürgerlichen Maß zu tragen. "Aufklärung über den Nationalsozialismus fand bei uns in der Schule überhaupt nicht statt." Das provozierte ihn. Er war noch Schüler, als er die erste Demonstration in seiner Heimatstadt gegen die NPD initiierte. "Das war schon ein Ereignis für Ingolstadt." Viele Bürger folgten. "Auch der Peter Schnell ist mitgelaufen", erzählt Reichert. Sein Aufruf im Namen der "Kampagne für Demokratie und Abrüstung" zu einer Diskussionsrunde nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke in Berlin am 11. April 1968 (siehe den Haupttext auf dieser Seite) entsprang derselben Haltung: "Wir haben das gemacht, weil wir davon überzeugt waren, dass es das Richtige ist. Es war einfach eine Sache der Vernunft. Wir wollten die Welt für uns erträglicher machen. Da war es gut zu wissen, dass man nicht allein ist. Es war uns sonnenklar, dass wir uns gegen Militarismus einsetzen mussten, gegen Rechtsradikalismus und für Abrüstung."

Aber das alles undogmatisch. Ideologiefrei. Parteipolitik blieb ihm immer fremd. Damit unterschied sich Carl-Ludwig Reichert von den revolutionär beseelten, jedoch der Realität bald entrückten, dauertheoretisierenden Weltverbesserern, die man heute mit "68ern" assoziiert. "Ich bin ein Individualanarchist", sagt er. "Es war mir schnell klar, dass man jedwede Missionarstätigkeit und alle Heilslehren in der Friedenspfeife rauchen kann."

Mit ihrer Revolte sind sie gescheitert, die 68er. Haben sie dennoch etwas erreicht? Ja schon, sagt Reichert. Die Aufbegehrenden hätten deutlich gemacht, dass es der soziale Rechtsstaat der Bundesrepublik wert ist, ihn kritisch zu prüfen - und damit letztlich zu stärken. Es sei auch das Verdienst der Akteure jener stürmischen Jahre, Demonstrations- und Artikulationsformen mitentwickelt zu haben, die bis heute unserer Demokratie dienen. Und das, findet der 71-Jährige, "ist doch schon was".