Pfaffenhofen
"Wir wollen nicht zu Russland gehören"

19.02.2015 | Stand 02.12.2020, 21:38 Uhr

Sie wollen mithelfen: Schüler packen Pakete mit Kleidung und Medikamenten für die Streitkräfte.

Pfaffenhofen (DK) „Wie geht es den Leuten in der Ukraine“ Als Austauschschülerin höre ich diese Frage oft. Seit letztem Jahr läuft in meiner Heimat eine sogenannte antiterroristische Operation – eigentlich ist das ein Krieg mit Russland, bei dem es um unsere Gebiete und unsere Unabhängigkeit geht. In den russischen Medien wird der Krieg aber als Bürgerkrieg dargestellt.

In der Ukraine kenne ich viele Leute, die diese Ereignisse ignorieren wollten, die keine Nachrichten darüber hören und nie darüber sprechen wollten. Ich kenne aber auch viele, die sich seit den Zeiten des Euromaidans mit der Situation auseinandersetzen. Letztes Jahr durfte man sich in einigen Schulen nicht einmal über dieses Thema unterhalten. Das hat sich geändert: Jetzt basteln Lehrer und Schüler nach dem Unterricht zusammen Tarnnetze für die Panzer der ukrainischen Streitkräfte. Sie organisieren Wohltätigkeitskonzerte und Jahrmärkte, um Geld für unsere Armee zu sammeln. Sie stellen Pakete mit Nützlichem und Medikamenten zusammen, die sie in die Krisengebiete schicken.

Meine Stadt Sumy liegt sehr nah an Russland – die Entfernung zur Grenze ist weniger als 50 Kilometer. Viele Menschen dort sprechen Russisch als Muttersprache, und auch die Kultur unterscheidet sich fast nicht von Russland. Trotzdem gibt es dort keine Separatisten. Die Mehrheit will in der Ukraine bleiben und auch Richtung EU gehen. Und das zeigen die Leute: Seit vergangenem Frühling sind in vielen Städte alle möglichen Brücken, Zäune oder Pfosten in Blau-Gelb bemalt, den Farben unserer Nationalfahne. Damit wollen ukrainische Jugendliche zeigen, dass wir zur Ukraine gehören und nicht zu Russland wollen.

Zunehmend hört man Leute Ukrainisch reden, die früher immer Russisch gesprochen haben. Und auch die ukrainische Tracht ist in letzter Zeit sehr populär geworden. Designer entwickeln neue, moderne und gut aussehende Varianten dieser Kleidung, und überall sieht man jetzt Dinge mit ukrainischer Symbolik. Man könnte sagen, dass uns der Krieg in der Ukraine in den letzten paar Monaten stark vereint hat. Viele Ukrainer haben jetzt aber auch Probleme mit ihren Freunden oder Verwandten aus Russland. In den Familien kommt es oft zu heftigen Streitereien über Politik.

Den Menschen, die direkt in den Krisengebieten leben, geht es allerdings sehr schlecht. Jeden Tag gibt es die Gefahr von Explosionen und Feuergefechten. Es ist nicht ungefährlich, in die Schule zu gehen oder sich draußen zu treffen. In den Geschäften gibt es nicht mehr alles Notwendige, in manchen Orten kann man manchmal gar nicht einkaufen. Aber das unterscheidet sich von Stadt zu Stadt.

Eine Bekannte von mir aus dem umkämpften Mariupol erzählt, es sei am schlimmsten, dass sich viele schon an den Krieg gewöhnt haben. Die Geräusche von Explosionen gehören jetzt zum Alltag. Trotzdem versuchen viele Jugendliche, weiter ein normales Leben zu führen – Arbeit, Schule, Partys, Kinobesuche . . . Ganz anders ist die Situation in den Familien, in denen die jungen Männer eingezogen wurden und jetzt an der Front kämpfen. Wenn jeden Tag die Gefahr droht, dass man traurige Nachrichten bekommt, hat man keine Lust auf Feiern. Da wird jeder Cent gespart und für die Armee gespendet, jede Nachricht wird gelesen und besprochen. Man kann nur hoffen und beten, dass es bald Frieden in der Ukraine gibt.

Menschen, die vor dem Krieg in andere ukrainische Städte geflüchtet sind, haben auch Schwierigkeiten. Ihr Leben ist plötzlich ganz anders. Sie müssen aus der Armut rauskommen, Arbeit und eine Wohnung finden, sich um Kindergartenplätze oder um eine Schule für die Kinder kümmern. Selbstverständlich bekommen Flüchtlinge Hilfe und Unterstützung von Freiwilligen. Aber viele treffen auch auf Missgunst von Menschen aus den friedlichen Gebieten. Man sagt, dass Leute aus dem Donbass selber am Krieg schuld sind, weil sie am Anfang die russische Seite unterstützt haben. Probleme haben auch alte Leute, die keine Möglichkeit haben, umzuziehen. Sie müssen dann alleine in den Krisengebieten bleiben, von der Familie und dem Bekanntenkreis getrennt.

Auch die Kosten für Lebensmittel oder Miete werden überall im Land immer höher. Der Wert von Dollar und Euro hat sich seit 2014 fast verdoppelt. Fernsehen und Zeitungen sind jeden Tag voller schlechter Nachrichten, und alle Leute sind depressiv. Wegen der nervlichen Belastung haben viele auch gesundheitliche Probleme. In der Ukraine herrschen schwere und spannende Zeiten. Es ist fast unmöglich, so wie früher zu leben. Wir sind jetzt alle füreinander verantwortlich. Und wir sollten unser Möglichstes tun, um diesen Krieg schneller zu beenden.