Ingolstadt
„Wir wollen kein Türöffner sein“

28.02.2020 | Stand 23.09.2023, 10:57 Uhr
  −Foto: Eberl, Stefan, Ingolstadt

Ingolstadt - Das Bundesverfassungsgericht hat vor wenigen Tagen in seinem Urteil eine Liberalisierung der assistierten Sterbehilfe befürwortet und dies mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Betroffener begründet. Die Entscheidung wirft viele Fragen auf.

Die Meinungen bei Politik, Ärzteschaft und Kirche zu dem Urteil gehen auseinander. Was sagen Vertreter betroffener Bereiche und Einrichtungen in Ingolstadt dazu? Unsere Zeitung hat sie befragt.

Subtiler Druck befürchtet

Münster-Dekan Bernhard Oswald äußert auf Anfrage seine Traurigkeit über die Entscheidung der Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe. Er sagt: „Ich war erschrocken, als ich davon hörte.“ Oswald glaubt, es könne durch die Liberalisierung der Sterbehilfe ein subtiler Druck auf die Betroffenen, vor allem auf ältere Menschen, die für ihr Umfeld keine Belastung darstellen wollen und die deshalb Schuldgefühle entwickeln, entstehen. Der religiöse Grundsatz „Du sollst nicht töten“ stelle laut ihm eine klare Grenze dar, die für den Menschen dabei Hilfestellung sei. Der Geistliche befürchtet zudem, dass eine Art Verfügungsrecht über Leben und Tod eine ungewollte Dynamik, durch das, was andere denken und sagen, auslösen könnte. Dies könnte nach seinem Bekunden auch Auswirkungen auf den Schutz von Schwerstkranken in der Pflege haben.

Bestmögliche Lebensqualität

Das Urteil, den Paragraph 217 StGB aufzuheben, sei für Jürgen Simon Müller, Fachbereichsleiter Gesundheit, Senioren und Pflege bei der Diakonie Ingolstadt, „bedenklich“, wie er sagt. Er befürchte, dass einer Geschäftsmäßigkeit der Sterbehilfe so ungehindert Freiraum gelassen werde. Zwar habe man als Einrichtung der stationären und ambulanten Pflege Verständnis dafür, wenn sich unheilbar Erkrankte ein Ende ihres Lebens wünschten. „Aber wir sind auch besorgt, da die Zulassung organisierter Sterbehilfe alte, kranke oder pflegebedürftige Menschen subtil unter Druck setzt, solche Angebote in Betracht zu ziehen“, sagt er. Der direkte Wunsch von Patienten und Bewohnern nach direkter Sterbehilfe begegne ihm „eher nicht“, so Müller. Stattdessen versuche man, die bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende zu verschaffen.

Direktes Werben untersagen

Es ist gut, dass die Beihilfe geregelt wird“, sagt der Allgemeinmediziner Anton Böhm (r.). Es dürfe aber nicht sein, dass schwer kranke Personen angesprochen würden, ob sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen, ergänzt er einschränkend. „Der Hinweis muss vom Betroffenen selbst kommen“, so Böhm. Er sagt weiter, dass heute zu 99 Prozent für ein schmerzfreies Sterben von todkranken Patienten gesorgt werden könne, ohne Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. „Wer ein Umfeld hat, in dem er sich gut aufgehoben fühlt, wird den Wunsch ohnehin nicht äußern“, ist er sicher. Eine Problem sieht Böhm darin, wenn sich Patienten phasenweise schlecht fühlen, etwa bei einer Depression. Dann sollten Kriterien wie etwa ein ärztliches Gutachten vor der freien Entscheidung des Einzelnen stehen. „Hier ist jetzt der Gesetzgeber gefragt“, so der Arzt.

Kein Türöffner für Sterbehilfe

Ich halte davon sehr wenig“, sagt Tina Lamprecht, Hospizleitung im Elisabeth Hospiz, zur Entscheidung in Karlsruhe. Sterben sei ein großer Einschnitt – auch in das Leben der Hinterbliebenen. „Denn der Mensch ist plötzlich weg“, so Lamprecht, die damit deutlich machen will, welches Gewicht auf der Entscheidung, die assistierte Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ruht. Im Hospiz lägen Menschen, die hier in der Regel auch stürben. Die Nachfrage, das Sterben in die eigene Hand zu nehmen, könne sicherlich kommen, sagt sie. „Sie wird bei uns auch klar beantwortet: Wir machen das nicht“, so Lamprecht. Die neue Gesetzeslage müsse jedoch intern noch geklärt werden. „Türöffner für diesen Weg wollen wir aber nicht sein“, so die Leiterin. Aufgabe des Hospizes sei es vielmehr, dem Gast auf dem letzten Weg eine gute Zeit zu bereiten.

Stichwort

Paragraf 217 im Strafgesetzbuch verbietet seit 2015 Sterbehilfe als Dienstleistung. Doch das Sterbehilfe-Verbot verstößt gegen das Grundgesetz, haben die Verfassungsrichter entschieden. In ihrem Urteil arbeiten sie ein Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben heraus – nicht nur unheilbar Kranken, sondern „in jeder Phase menschlicher Existenz“. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen“, so Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Damit ermöglicht das Bundesverfassungsgericht organisierte Suizidhilfe in Deutschland.

Michael Brandl