Roth
"Wir sind viele!"

Soziologieprofessor Armin Nassehi spricht in der Rother Kulturfabrik über Chancen der Migration

20.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:09 Uhr

Roth (HK) Angst und Verunsicherung auf der einen Seite, eine Welle der Hilfsbereitschaft auf der anderen. Das Thema Migration wird der Münchener Soziologe Professor Armin Nassehi auf Einladung der Bildungsregion bei einem Vortrag in der Rother Kulturfabrik beleuchten.

"Wir sind viele! Vom Umdenken in einer modernen Gesellschaft - Pluralität als Chance", lautet am Mittwoch, 26. Oktober, um 19.30 Uhr, der Titel von Nassehis Vortrag. Er will zeigen, was es bedeutet, in einer modernen Gesellschaft zu leben. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Im Interview spricht Nassehi über das Thema.

 

Herr Nassehi, Sie vertreten die These, dass sich die zivilisatorische Reife einer Gesellschaft an ihrem Umgang mit Fremden ablesen lässt. Denkt man an die Bilder aus Dresden, wo Pegida-Anhänger einen schwarzen Passanten mit Affenlauten bedacht haben, scheint es im Hinblick auf den Reifegrad nicht weit her zu sein. Wo stehen wir?

Armin Nassehi: Es wäre ein großer Fehler, zu glauben, dass diese extremen Reaktionen, für die Pegida steht, ein repräsentativer Ausdruck unserer Gesellschaft seien. Wenn man genau hinsieht, war und ist die Reaktion auf Flüchtlinge in Deutschland eher positiv und durchaus zugewandt. Es gibt nach wie vor eine große Hilfsbereitschaft und in der politischen Mitte besteht Einigkeit darüber, dass den Menschen geholfen werden muss. Insofern sollte man tatsächlich nicht so tun, als ob solche offen rassistischen Reaktionen der Normalfall wären.

Sie werden in der Kulturfabrik von "Pluralität als Chance" sprechen. Dass rechtspopulistische Gruppierungen in Deutschland gerade einen Aufwind erleben, lässt sich aber nicht wegdiskutieren. Statt Pluralität heißt es da Überfremdung und das Wort Chance ersetzt man durch Angst. Warum kommt das an?

Nassehi: Ich bin weiß Gott kein Sozialromantiker. Ich weiß, dass Pluralismus und die Konfrontation mit Ungewohntem belastend sein können und auch Sorgen auslöst - auf allen Seiten übrigens. Aber man muss sich vergegenwärtigen, wie pluralistisch unsere moderne Welt ohnehin schon ist. Zu glauben, dass Flüchtlinge oder Menschen aus anderen Kulturkreisen uns überfremden oder das Land grundlegend ändern, ist eine Überreaktion. Die Ursachen liegen tiefer: Die Verunsicherung lässt sich mit instabilen Lebenssituationen, in Ostdeutschland sicher auch mit mangelnder Erfahrung mit Pluralität, sowie mit Abstiegsängsten erklären.

Sie sind der Ansicht, dass Deutschland überhaupt keine Veranlassung hat, von einer Flüchtlingskrise zu sprechen, stimmt das?

Nassehi: Die Herausforderung, die die große Zahl an Flüchtlingen darstellt, darf nicht heruntergespielt werden - weder in organisatorischer noch in finanzieller Hinsicht. Aber zu behaupten, es handle sich um eine Krise, die an die Grundfesten unserer Gesellschaft ginge, ist eine radikale Übertreibung. Da täte mehr Sachlichkeit manchmal ganz gut.

 

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Fehler, die die Politik macht?

Nassehi: Politik hat zu lange eine zu passive Rolle gespielt - das hat viele Menschen verunsichert. Dass man zeitweise nicht wusste, wie viele Menschen kommen und wer genau im Lande ist, ist sicher ein politischer Fehler gewesen. Man hätte schneller signalisieren müssen, dass man die Sache im Griff hat. Wir sind zwar ein Einwanderungsland, schon lange, haben aber immer so getan, als würde sich das alles von selbst regeln.

 

"Integration" und "Migration". Hinter solchen Begriffen steckt für Sie mehr als die Bewältigung aktueller Flüchtlingsbewegungen.

Nassehi: Gelungene Integration heißt: Teilhabe am Arbeits- und Wohnungsmarkt, Aufstiegschancen, sichere Lebensverhältnisse, Zukunftserwartungen für sich selbst und die nächste Generation. Hier ähneln Lebenslagen von sozial Schwachen oft denen von Migranten. Insofern ist Integration mehr als nur eine Frage der kulturellen Anpassung.