Herr
"Wir müssen helfen"

Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, über die Flüchtlingspolitik

20.04.2015 | Stand 02.12.2020, 21:24 Uhr

„Wir können nicht einfach so weitermachen“, sagt Martin Schulz. Der Präsident des europäischen Parlaments fordert mehr Schutz und Hilfe für Flüchtlinge sowie eine gemeinsame Einwanderungspolitik in der EU. - Foto: Kisbenedek/AFP

Herr Schulz, wieder sterben hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer, wieder wird über Konsequenzen beraten. Wann wird es endlich Konsequenzen geben

Martin Schulz: Wir wären schlecht beraten, wenn wir jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen würden. Beinahe jede Plenarsitzung des Europäischen Parlaments beginnt inzwischen mit einer Schweigeminute für hunderte von toten Flüchtlingen. Wir können nicht einfach so weitermachen. Das geht nicht! Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir weitere solche Tragödien erleben. Wir brauchen eine legale Einwanderungsregelung. Der Schutz für Kriegsflüchtlinge muss temporär ausgeweitet werden. Und es muss eine europäische Quotenregelung für die Aufnahme der Flüchtlinge geben. Jetzt müssen sich diejenigen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten bewegen, die bisher zu wenig tun. Ganz dringend braucht die internationale Gemeinschaft auch ein schlüssiges Konzept für den Umgang mit den sogenannten failed states, den gescheiterten Staaten, um so am Flüchtlingsproblem vor Ort anzusetzen.

 

Der Ruf nach der Fortsetzung des Programms „Mare Nostrum“ zur Rettung der Schiffbrüchigen wird immer lauter. Wäre das kurzfristig der richtige Weg?

Schulz: „Mare Nostrum“ war eine italienische Einrichtung. Italien allein wird kaum in der Lage sein, diese Einrichtung wiederaufleben zu lassen. Die europäische Triton-Mission, die nur die unmittelbaren Küstenstreifen vor Sizilien und Malta schützt, reicht nicht aus. Wir brauchen einen umfassenden Schutz der Flüchtlinge im Mittelmeer. Wir müssen aber auch stärker die Schlepperbanden und ihr zynisches Geschäft bekämpfen. Wir nehmen viel Geld in die Hand, um Piraten zu bekämpfen. Das müssen wir auch tun, um Schlepperbanden auszuschalten.

 

Die EU-Mitgliedsstaaten verweisen auf Brüssel, die EU-Kommission sieht die Verantwortung für die humanitären Katastrophen dagegen bei den einzelnen Regierungen – wie lange soll dieses Schwarzer-Peter-Spiel noch gehen?

Schulz: Die EU würde gerne mehr tun und die Voraussetzungen für ein europäisches Einwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingsrecht schaffen. An uns liegt es nicht. Das europäische Parlament und die EU-Kommission haben schon vor langer Zeit vernünftige und praktikable Vorschläge auf den Tisch gelegt, und wir werden das auch bald wieder tun. Wer eine gemeinsame Politik behindert, sind die Mitgliedsstaaten und ihre Regierungen. Sie sind es, die in diesen Fragen das letzte Wort haben.

 

Was muss jetzt kurzfristig geschehen, um denen zu helfen, die sich weiter über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa machen?

Schulz: Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die in Seenot geraten, gerettet werden können. Das gebietet die Menschlichkeit. Wer den Schutz und die Rettung mit dem Argument verweigert, dass dies eine Einladung an die Schlepperbanden sei, ist zynisch und unmenschlich. Wir werden die Flüchtlinge nicht aufhalten können. Deshalb müssen wir helfen. Das gilt für das Mittelmeer wie für jedes einzelne Mitgliedsland der EU. Die Türkei hat zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Da muss es doch möglich sein, dass Europa mit seinen 507 Millionen Einwohnern eine halbe Millionen Flüchtlinge aufnimmt und verteilt. Bisher sind es vor allem Deutschland, Frankreich und Schweden, die das Gros der Flüchtlinge aufnehmen. Wir haben aber 28 EU-Mitglieder. Europa ist ein Einwanderungskontinent und muss sich eine gemeinsame Ordnung für die Zuwanderung geben. Es muss aber auch klar sein: Nicht alle können zu uns kommen. Man muss Menschen auch davon abhalten, in ihr Unglück zu segeln.

 

Würden Flüchtlings-Aufnahmeeinrichtungen in Afrika und die Prüfung von Asylanträgen vor Ort den Druck verringern?

Schulz: Mit rechtsstaatlichen Regierungen wie zum Beispiel der tunesischen wäre dies sicher möglich. Dort könnten Botschaften und Konsulate zu Anlaufstellen werden. In Libyen macht so etwas keinen Sinn. Wir müssen alle diplomatischen Anstrengungen darauf richten, in Libyen eine Regierung der nationalen Einheit zu schaffen und mit dieser vor Ort eng zusammenzuarbeiten.

 

Die Fragen stellte unser

Berliner Korrespondent

Andreas Herholz.