Kösching
"Wildfremde Menschen umarmten uns"

01.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:37 Uhr

Massenauflauf am 3. Oktober 1990 in Berlin: Hunderttausende nutzten damals die Gelegenheit, durch das geöffnete Brandenburger Tor zu Marschieren. Mittendrin waren auch rund 40 Köschinger Hauptschüler und drei Lehrer. - Fotos: privat

Kösching (DK) "Die Menschen haben sich gefreut wie Schneekönige. Alte Leute sind herumgehüpft wie kleine Kinder, wildfremde Menschen haben sich umarmt, überall wurde gesungen und getanzt." An diese Szenen vor genau 20 Jahren kann sich Corinna Feig erinnern, als sei es gestern gewesen.

Zusammen mit 40 anderen Schülern aus Kösching und vier Begleitpersonen war die damals 13-Jährige hautnah dabei, als aus zwei deutschen Staaten einer wurde – bei der Wiedereinigung in der Nacht zum 3. Oktober in Berlin. "Diesen Tag, der der schönste in meiner Schulzeit war, werde ich niemals vergessen", sagt die heute 33-jährige Köschingerin. Ihre Augen leuchten, als sie über die Klassenfahrt der besonderen Art erzählt.
 
Besonders die Partystimmung rund um das Brandenburger Tor, die friedlich feiernden Menschenmassen und das gigantische Feuerwerk haben sich in ihr Gedächtnis eingemeißelt. "Das war ein Gänsehautfeeling." Für sie als junger Mensch sei es damals total aufregend gewesen, nur mit drei Schulkameraden in der Nacht durch so eine große Stadt zu ziehen und die "glücklichen Menschen zu beobachten", sagt Feig, die selbst ein paar Mal umarmt worden ist. An jedes Detail der riesigen Feier anlässlich der Wiedervereinigung kann sich die 33-Jährige heute nicht mehr erinnern. "Es ist ja schon so lange her", meint Feig, die zuvor noch nie in einer so großen Stadt gewesen ist.

Fred Selles, Peter Ladenburger und Rolfdieter Häusler kennen Berlin noch, als die Mauer beide Teile der Stadt trennte. Alle drei waren als damalige Lehrer an der Köschinger Hauptschule bei der Reise von 2. bis 4. Oktober 1990 dabei. Häusler war es, der die Fahrt der zwei achten Klassen ins Rollen gebracht und organisiert hat. "Ich habe am 9. November 1989 im Fernsehen den Fall der Berliner Mauer gesehen. Das hat mich so beeindruckt, dass ich bei dem historischen Ereignis der Wiedervereinigung unbedingt live dabei sein wollte", erzählt der heute 62-Jährige. Nachdem der Schulleiter die Fahrt genehmigt hatte, wurden schnell Quartier und Bus bestellt. Am 2. Oktober 1990 ging’s in aller Herrgottsfrüh in Kösching los. Nachdem die Unterkunft in der Jugendherberge im früheren Ostberliner Bezirk Spandau bezogen war, fuhren die Köschinger Schüler, Lehrer und Helga Häusler als vierte Begleitperson mit Bus und U-Bahn Richtung Alexanderplatz. "Ungefähr eine Stunde dauerte das, und die U-Bahn war so überfüllt wie in Tokio", erinnert sich Peter Ladenburger und lacht: "Ich wundere mich heute noch, dass alle wohlbehalten angekommen sind." Und Rolfdieter Häusler ergänzt: "Das war eine Riesenwallfahrt." Und ein "Riesenvolksfest" sei die Wiedervereinigungsfeier zwischen Reichstag, Brandenburger Tor und Alexanderplatz gewesen. "Da standen unzählige Essens- und Getränkestände, und überall spielten Bands. Auch Chris de Burgh trat auf", berichtet Häusler, der 21 Jahre lang Lehrer an der Köschinger Hauptschule war.

Auf der kilometerlangen Feiermeile habe eine super Stimmung geherrscht, so Peter Ladenburger. "Alles lief friedlich ab." Weil das Gedränge zu groß war, teilte sich die über 40-köpfige Truppe in kleine Gruppen auf. Ladenburger: "Wir, die verantwortlich für die Jugendlichen waren, hatten schon ein mulmiges Gefühl, als wir sie losgeschickt haben", räumt der heute 61-Jährige ein. "Aber alles hat funktioniert, weil die Schüler absolut zuverlässig und diszipliniert waren", betont Fred Selles. Stündlicher Treffpunkt für die Köschinger, die alle einheitliche Käppis als Erkennungszeichen trugen, war die Weltzeituhr am Alexanderplatz. Ein Schüler fehlte jedoch, als die Truppe gegen 2 Uhr morgens zurück zur Unterkunft fahren wollte. "Der Bursch’ stand vor einem Schaufenster und hat dann die Gruppe verloren", erinnert sich Peter Ladenburger. Ein Suchtrupp sei losgeschickt worden – ohne Erfolg. "Gegen halb drei kam er dann zur Weltzeituhr."

Zurück zu Mitternacht. Da blickten die drei Köschinger Lehrer wie Tausende andere auch gebannt auf die große Uhr am Roten Rathaus. Ladenburger: Die letzten Sekunden vor null Uhr ertönten zwölf Glockenschläge. Da war es mucksmäuschenstill." Dann, beim Wiedervereinigungszeitpunkt, brach Riesenjubel aus. "Viele haben sich bei mir untergehakt und mit mir geschunkelt", erzählt Fred Selles. Und natürlich hat das Pädagogentrio lautstark die deutsche Nationalhymne mitgesungen. "Wie da alle gestanden sind und gesungen haben, da lief es einen kalt den Buckel runter." Fröhlich ging die Feier weiter. Ladenburger: "Wildfremde Menschen umarmten uns."

Als die Touristen aus dem Süden dann gegen 5 Uhr die Jugendherberge erreichten, "waren wir alle geschafft, die Lehrer vielleicht noch mehr als die Schüler", schmunzelt Fred Selles.

Nach nur drei Stunden Schlaf ging das Programm weiter. Sehr beeindruckend sei es für die Köschinger gewesen, mit Hunderttausenden anderen Leuten ungehindert durch das vorher gesperrte Brandenburger Tor zu gehen, sagt Rolfdieter Häusler und betont: "Solche geschichtliche Ereignisse live mitzuerleben, ist schon etwas Besonderes."