München/Berlin
Wieso einige Mütter dem Staat jetzt die Betreuungszeit ihrer Kinder in Rechnung stellen

#coronaelternrechnenab

26.05.2020 | Stand 23.09.2023, 12:08 Uhr
Simone Buchholz ist sauer - und hat deshalb an der Aktion #coronaelternrechnenab teilgenommen. “Die Männer sitzen mit ihren Autos und dem Fußball in den Rettungsbooten, Frauen und Kinder bleiben bitte auf dem sinkenden Schiff”, sagt sie. −Foto: Gerald von Foris

Rückblick: Freitag, 13. März 2020. Vielen Menschen dämmert gerade, dass sich diese Corona-Pandemie zu etwas auswachsen kann, das alles verändert wie wenige Dinge zuvor. Gegen Mittag tritt Markus Söder vor die Presse. Er verkündet eine Maßnahme im Kampf gegen dieses Virus, die zahlreiche Familien an ihre Grenzen und darüber hinaus bringen wird: Schulen und Kitas werden geschlossen, nur die Notbetreuung läuft weiter. Das Ganze soll erst einmal bis nach den Osterferien gelten – das wären sechs Wochen. Alle anderen Bundesländer folgen nach und nach.

Über zwei Monate später. Die Normalität nach den Ausgangsbeschränkungen kehrt Schritt für Schritt zurück. Geschäfte und Restaurants öffnen, in der Bundesliga rollt der Ball. In Schulen und Kitas herrscht aber noch immer kein Regelbetrieb. Nach und nach kehren zwar Klassen in die Schulgebäude zurück – dank Kleingruppen und Hygienekonzept aber höchstens stundenweise. In Kitas läuft oft nur Notbetreuung für Kinder von Eltern in „systemrelevanten“ Berufen. Wie und was geöffnet wird, bleibt den Bundesländern überlassen. Das Ergebnis: Ein Flickenteppich an Regelungen. Die Realität in vielen Familien: Kinderbetreuung, Homeschooling und Arbeit müssen parallel funktionieren. Eine immense Belastung. Eltern müssen immer wieder Lösungen finden, wie das funktionieren kann. Die Wut, vor allem unter Müttern, die scheinbar oft die Hauptbelastung in den Familien tragen, wächst. Dann veröffentlicht das Familienministerium am Muttertag eine "Danke"-Kampagne, die das Fass für viele zum Überlaufen bringt. Zahlreiche Mütter werden laut - und starten eine Aktion, die heftige Reaktionen hervorrufen wird: Sie stellen die Betreuungszeit für ihre Kinder dem Staat in Rechnung. Eine Geschichte von Feminismus, Wut, rechten Trollen und der Frage, ob das Familienbild in Deutschland in den 50er-Jahren steckengeblieben ist.

"Ungenügend" für die Kultusminister

Eine dieser Familien ist die von Simone Buchholz. Die Hamburger Schriftstellerin hat einen elfjährigen Sohn - und nun ein Betreuungsproblem. Bisher teilten sich Buchholz und ihr Mann die Betreuung etwa 50:50 auf. Sie, die Krimiautorin, war etwa 150 Tage im Jahr auf Reisen, arbeitete Vollzeit, der Sohn ging in die Ganztagsschule. Seit Monaten sieht der Alltag völlig anders aus. Jeden Tag Homeschooling, wenn es gut läuft, hat die Mutter ab etwa 17 Uhr Zeit, an ihrem zehnten Roman zu schreiben. Er soll zu den Sommerferien fertig sein. Das ist anstrengend. “Es geht gar nicht so um die Anwesenheit des 11-Jährigen, sondern um die Arbeit rund um das Homeschooling, für das es keine Konzepte gibt”, erklärt Buchholz. Das Problem Kinderbetreuung werde gerade auf Eltern, Kinder, Lehrer und Schulen abgewälzt. “Wenn nach neun bis zehn Wochen in dieser Situation die Kultusministerkonferenz nicht in der Lage ist, Konzepte vorzulegen und immer noch sagt ‘das ist ja alles noch so neu’ muss ich sagen ‘ungenügend’”, ärgert sich Buchholz. Wenn alles nach Plan läuft, soll Buchholz’ Sohn ab Ende Mai wieder in die Schule - für 4,5 Stunden die Woche. 

Andrea Reif hingegen hat noch gar keine Perspektive, wie es weitergehen soll. Die Münchner Unternehmerin hat drei Kinder, die sie gerade zu Hause beschult. Arbeiten für ihre Agentur kann sie meist erst nach 14 Uhr, am Tag vor dem Interview wurde es nachts halb zwei. Die Kinder - momentan in der zweiten, dritten und siebten Klasse - gehen frühestens in vier Wochen in die Schule. Wie viele Tage oder Stunden und in welchem Rhythmus steht noch in den Sternen.

“Vielen Dank für die Blumen! Hier meine Rechnung!”

Dann kommt der 10. Mai, Muttertag in Deutschland und das Bundesfamilienministerium macht einen folgenschweren Fehler. Es veröffentlicht in den sozialen Medien eine Kampagne, in der man bildschön Mütter für ihre Leistungen dankt. “Danke-Mutti”-Filmchen nennt Buchholz das. Viele macht das wütend, in den Kommentaren entlädt sich der Ärger in einer Zeit, in der sich viele Mütter vergessen fühlen.

Das Familienministerium reagiert und löscht die Beiträge später. Karin Hartmann, Rona Duwe und Sonja Lehnert reicht das nicht. Aus ihrer Wut heraus starten sie eine Aktion. “Vielen Dank für die Blumen! Hier meine Rechnung!”, schreibt Duwe auf ihrem Blog. Die Frauen stellen dem Staat nun die Zeit in Rechnung, die sie wochenlang mit Homeschooling und Betreuung verbracht haben - weil das Schulen, Kitas und Horte nicht mehr anbieten. Schlagwort: #coronaelternrechnenab. Karin Hartmann will zum Beispiel etwa 6.300 Euro für neun Stunden Betreuung täglich, sechs Wochen lang.

12.423,60 Euro bitte

Die Münchner Unternehmerin Reif erfährt noch vorab von der Aktion, fängt an, zunächst “aus Spaß” in den Vordruck ihre Stunden einzutragen. Obwohl ihre Familie Unterstützung von einem Au Pair hat, zählt Reif über 240 Stunden, die sie in die Beschulung ihrer Kinder gesteckt hat. Macht - samt täglicher Betreuung - 12.423,60 Euro. Die Frauen machen ihre Rechnungen publik, stellen die Beiträge und Beträge in die sozialen Medien. 

Noch am Montagabend entdeckt Schriftstellerin Buchholz #coronelternrechnenab auf Twitter. “Ich dachte: Ja, das ist zwar überspitzt, aber jetzt zeigen wir doch mal, was wir hier gerade leisten beziehungsweise wie viel Zeit wir momentan damit verbringen, nicht erwerbstätig zu sein. Und dann habe ich auch mal so eine Rechnung geschrieben.”

“Euthanasie-Empfehlungen für meinen Sohn und mich”

Was folgt, ist eine Welle. Eine Welle an Hass, Angriffen, Verleumdungen und Spott. Die Initiatorinnen der Aktion trifft der Shitstorm im Netz so hart, dass sie mittlerweile nicht mal mehr auf Presseanfragen reagieren möchten. Buchholz sagt heute, sie glaube, dass eine Art “rechte Trollarmee” auf die Beiträge der Mütter aufmerksam wurden. “Ich hab relativ schnell mein Profil geschlossen, nachdem ich die ersten Euthanasie-Empfehlungen für meinen Sohn und mich bekommen habe”, erzählt sie, “kurz gesagt war deren einheitliche Meinung: Die deutsche Mutter hat sich gefälligst aufzuopfern und ansonsten den Mund zu halten.” 

“Wenn man über Feminismus und Gleichberechtigung im Netz spricht, bekommt man eigentlich immer einen Shitstorm ab”, so die Erfahrung von Reif. Doch sie sagt auch: “Ich habe noch nie erlebt, dass wir so viel Aufmerksamkeit bekommen haben, nur, weil wir einen Stundensatz dahinter gehängt haben. Das finde ich sehr bezeichnend.“ Und das alles “bloß, weil ein paar Mütter es mal wagen, öffentlich über Geld und das Geldverdienen zu reden”, drückt es Buchholz aus.

“Strukturell nicht aus den 50er-Jahren rausgekommen”

Wie die Menschen im Netz auf #coronaelternrechnenab reagieren, ist in den Augen beider Frauen bezeichnend. Bezeichnend dafür, wie das Familienbild 2020 in Deutschland aussieht und bezeichnend dafür, was die Arbeit von Müttern wert ist und wert sein darf. “Wir sehen einfach, dass wir strukturell nicht aus den 50er-Jahren rausgekommen sind”, sagt Buchholz. Und auch Reif beobachtet: “Ich glaube, dass diese Krise gezeigt hat, dass viele Dinge, von denen wir geglaubt haben, dass wir sie erreicht haben, vielleicht auch nur oberflächliche Augenwischerei waren. Für mich ist relativ klar: Wir sind in Sachen Gleichberechtigung nicht da, wo wir dachten, wo wir sind.”

Doch wieso? Wieso belastet diese Krise auch 2020 noch zum großen Teil Mütter?

“Sobald wir so in die Krise kommen, fallen wir gleich in alte Rollenmuster zurück. So etwas braucht wahrscheinlich Generationen, weil es auch eine Sache der Einstellung ist und der tief verwurzelten Schemata”, beobachtet Reif. Erstes Stichwort: Gender Pay Gap, also der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen. “Ok, auf dein Gehalt können wir eher verzichten als auf meins weil du verdienst in der Stunde weniger und arbeitest weniger”, erklärt Reif das, was wohl in vielen Familien ablief. “Ich glaube, da sind auch viele Automatismen dabei, die uns dann oft auch gar nicht bewusst sind.”

“Ich glaube, da scheuen Frauen noch eher den Konflikt”

Wie man diese Automatismen überwindet? Indem man den Konflikt anspricht, diskutiert und sich damit auseinandersetzt. “Da muss man auch unterschiedliche Meinungen aushalten und das braucht alles Kraft”, hat Reif erlebt. Und die müsse man auch haben - als Mutter, als Vater und auch als Paar. Und in einer Pandemie, einer akuten Krise voller Doppelbelastung, Erschöpfung und dünner Nerven überlegt man sich genau, welchen Konflikt man angehe. 

Auch sie berichtet von Schrauben, an denen das Paar drehen musste, damit das System zu Hause funktioniert. Dass es eines ernsten Gesprächs bedurfte, ehe Reifs Mann - im oberen Management eines Unternehmens als CFO tätig - früh genug von der Arbeit nach Hause kam, damit er sich um das Abendessen der Kinder kümmern und die Unternehmerin ihre Arbeitszeit am Abend nutzen konnte. “Ich glaube, da scheuen Frauen noch eher den Konflikt”, zieht Reif Bilanz.

"Mutti arbeitet Teilzeit-Deutschland"

Die Folgen dieser Strukturen? Frauen werden aus dem Berufsleben und somit dem öffentlichen Raum gedrängt, da ist sich Buchholz sicher. Vor allem, wenn die Situation rund um Homeschooling noch bis in das Jahr 2021 anhalten wird, wie Prognosen besagen. Dazu kommt, dass für viele die finanziellen Hilfen des Staates wohl nicht ausreichen werden - gerade für Selbstständige. “Ich rechne damit, dass viele Frauen ihre Selbstständigkeit aufgeben und sich wieder in die Abhängigkeit ihrer Männer begeben – also zurück in der Falle sind”, sagt Buchholz.

Ein Punkt, der gerade Unternehmerin Reif massiv ärgert. Über 240 Stunden Homeschooling - das ist auch Zeit, die sie den Kunden ihrer Agentur nicht in Rechnung stellen kann. “Und es ärgert mich schon immens, wenn wir jeglichen Wirtschaftsbetrieb auf Biegen und Brechen wieder öffnen, aber nicht klar ist, dass die Wieder-Arbeitenden aber auch Eltern sind”, erklärt sie. “Ich kann jetzt nicht jeden Wirtschaftsbetrieb wieder aufmachen und gleichzeitig vergessen, dass sowohl in einem Fußballstadion als auch in einem Freizeitpark berufstätige Eltern arbeiten.” Das alles zeige, wie die Politik ticke und dass sie viel zu stark von wirtschaftlichen Interessen gesteuert werde. “Wir Eltern sind kein wirtschaftliches Interesse. Und das kann nicht sein, finde ich.” “In ‘Mutti arbeitet Teilzeit-Deutschland’ sind Frauen halt kein harter Wirtschaftsfaktor, abgesehen davon, dass sie mit ihrer Gebärmutter das Rentensystem bespielen, von dem sie üblicherweise am allerwenigsten haben”, macht Bucholz ihrem Ärger Luft. Stattdessen: “Bei uns ging es um die Autoindustrie und um die Bundesliga.” Ihr Gefühl nach fast drei Monaten Pandemie: “Die Männer sitzen mit ihren Autos und dem Fußball in den Rettungsbooten, Frauen und Kinder bleiben bitte auf dem sinkenden Schiff.”

"Macht von mir aus für die Kinder die Autohäuser auf"

So viel Rückmeldung wie die Frauen im Netz auf #coronaelternrechnenab bekommen haben, so wenig Reaktionen kamen von denjenigen, an die ihre Rechnungen adressiert waren. Direkte Rückmeldungen gab es keine, weder aus Hamburg noch aus München. “Die Aktion ist dem StMAS bekannt”, heißt es auf DONAUKURIER-Anfrage an das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, an das Reif ihre Rechnung adressierte. Kindertageseinrichtungen und Bildungseinrichtungen seien nach der Familie der wichtigste Bildungsort, führt man in einem Statement aus. Der Staatsregierung sei bewusst, dass insbesondere berufstätige Eltern, die keine Berechtigung zur Notbetreuung haben, und deren Kinder in der aktuellen Situation in vielerlei Hinsicht vor große Herausforderungen gestellt würden. Den Familien wolle man eine Perspektive geben, unter anderem, indem man die Notbetreuung ausweite.

Immerhin mehr Rückmeldung als aus Hamburg. Buchholz bekommt auf ihre Rechnung nie eine Antwort. Die "Zeit" bittet später den Hamburger Schulsenator um eine Stellungnahme zur Rechnung. “Er sagte, er hätte gerade keine Zeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen”, so die Schriftstellerin.

Keine Reaktion, das die Frauen zufrieden gestellt hätte. Was würden sich die selbsternannten Corona-Eltern also jetzt wünschen? Kurz gesagt: Konzepte, Pläne, Lösungen. “Ich wünsche mir nach dem großen Autogipfel jetzt mal endlich den großen Familiengipfel, den es immer noch nicht gab”, sagt Buchholz. “Warum kann man die Kinder nicht draußen beschulen, wenn Virologen sagen, Ansteckungen finden vor allem in Innenräumen statt? Macht von mir aus für die Kinder die Autohäuser auf, macht die Biergärten auf, macht die Kirchen auf. Da kann man doch mal kreativ und flexibel denken.”

Was also kann die Abrechnung der Coronaeltern bewirken? Wünschen würden sie sich zumindest eine echte Diskussion. Über die Rolle und die Arbeit von Müttern. Über den Stellenwert von Familien. Und nicht zuletzt über die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir überhaupt leben?

Sophie Schmidt