Ingolstadt
Wie schaffen Sie das nur, Herr Widmann?

15.07.2011 | Stand 03.12.2020, 2:37 Uhr

Jörg Widmann ist ein Konzertabend im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte gewidmet. Am Dienstag, 19. Juli, um 19.30 Uhr spielen er und das Collegium Novum Zürich Werke von ihm im Festsaal.

Ingolstadt (DK) Jörg Widmann ist außer Atem.

Gerade noch hat er mit einem Schüler das Mozart-Klarinettenkonzert geprobt, nun ist er hektisch zum Interview-Termin geeilt. Kein Wunder eigentlich: Der Münchner ist einer der gefragtesten und vielbeschäftigsten Musiker überhaupt. Unser Redakteur Jesko Schulze-Reimpell unterhielt sich mit dem Klarinettisten, Dirigenten, Hochschulprofessor und Komponisten über sein Konzert am Dienstag, 19. Juli, bei den Audi-Sommerkonzerten.

Herr Widmann, wie schaffen Sie es eigentlich, so viele Berufe gleichzeitig auszuüben?

Jörg Widmann: Inzwischen kann ich mir das gar nicht mehr anders vorstellen. Aber: Es handelt sich ja immer um Musik, um verschiedene Facetten der gleichen Sache.

Kaum ein anderer jüngerer Komponist in Deutschland wird derart viel aufgeführt wie Sie. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Widmann: Ich kann die Wirkung und auch den Erfolg eines Stückes nicht kalkulieren. Ich bin manchmal fast erschrocken, dass ein Stück, das mir besonders am Herzen liegt, überhaupt keinen Anklang findet – oder umgekehrt. Was mir dabei wichtig ist, das hat Beethoven einmal geschrieben: „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen.“ Kunst kommt bei mir von Herzen. Oder: Ich würde sogar noch weiter gehen. Kunst kommt von Müssen. Ich kann gar nicht anders, als ein Stück zu komponieren, das mir gerade auf der Seele liegt. Ich kann nicht das tun, was man heute oft bei Hollywood-Filmen macht: vorab ein ausgesuchtes Publikum befragen und unter Umständen dann das Werk noch mal verändern. So kann, nach meinem Verständnis, Kunst nicht funktionieren.

Wenn man die Titel der Stücke, die Sie bei den Sommerkonzerten aufs Programm gesetzt haben, durchgeht, dann wirken die irgendwie romantisch, wie Titel von Schumann- oder Hugo-Wolf-Werken.

Widmann: Dieser Verdacht, zumal wenn es um Robert Schumann geht, ist nicht falsch. Er ist ein ganz wichtiger Komponist für mich. Aber diese Titel sind vielleicht eher noch meinem Bedürfnis nach Expressivität geschuldet. Es geht hier um eine sehr dunkle Aura der Musik, um Nachtmusik. Aber das eine Extrem ist bei mir niemals ohne das andere denkbar. Man wird in dieser Musik auch Lichtinseln finden. Aber die sind gefährdet. Diese Gefährdung des Glücks, die findet man bei Schumann auch.

Sie treten zusammen mit anderen Musikern auf, die Ihre Werke spielen. Wie arbeiten Sie mit ihnen?

Widmann: Ich glaube, viele Interpreten werden von mir sagen, dass ich doch sehr akribisch, ja fast schon pedantisch bin. Ich möchte mich dessen gar nicht besonders rühmen: Aber ich glaube, dass ich ziemlich gute Ohren habe. Ich konnte mir z. B. großen Respekt verschaffen, als ich nach einer Probe der Wiener Philharmoniker und Pierre Boulez die Musiker darauf aufmerksam machte, dass die Kontrabass-Flaggeolette fast immer eine Oktave zu hoch gespielt wurden. Seitdem hatten wir ein fantastisches Einverständnis. Wenn ich weiß, dass die Musiker wirklich toll sind, da versuche ich natürlich, sie bis an bestimmte Grenzen und auch darüber hinaus zu treiben. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist mir natürlich auch wichtig, dass ein Stück, das nun einmal komponiert wurde, ein Eigenleben hat. Mich überraschen manchmal junge Ensembles mit einem Tempo oder einer Deutung, die ganz anders ist, als ich es mir bisher gedacht habe. Aber die Idee ist so gut, dass ich zu den Musikern sage: Bitte, macht es genau so. Das Collegium Novum Berlin schätze ich wirklich ganz außerordentlich. Das Ensemble kennt meine Musik bereits sehr gut. Dann ist es auch mal möglich, ein Risiko einzugehen, etwas spontan ganz anders zu machen.

Wie geht der Interpret Widmann mit dem Komponisten Widmann um?

Widmann: Der flucht manchmal, wenn er die frühe Klarinettenfantasie spielen muss, die ist doch ziemlich schwer. Die habe ich gerade für die CD aufgenommen. Wenn ich meine Musik spiele, dann bin ich eigentlich ein ganz normaler Interpret.

Wie komponieren Sie?

Widmann: Stellen Sie sich das vor: Ich besitze keinen Computer. Ich schreibe alles mit der Hand. Mir ist das auch ganz wichtig. Ich möchte nicht auf eine Taste drücken, um etwas zu löschen, sondern es durchstreichen. Dann ist der Abschnitt immer noch irgendwie da. Für mich steht am Anfang des Komponierens immer eine klangliche oder formale Grundidee. D.h., es gibt einen Klang, der mich nicht mehr loslässt. Dann beginnt etwas, das ich Inkubationszeit nenne: Es braut sich etwas zusammen in mir. Dann beginnt ein ganz furchtbarer, gar nicht so glücklicher Prozess, wenn ich spüre, dass der Magnetismus, der mich immer vom Schreibtisch weggedrückt hat, auf einmal schwindet, und ich mich einfach hinsetzen muss und anfangen zu schreiben. Von diesem Zeitpunkt an gibt es für mich kaum noch etwas anderes im Leben, dann springe ich nachts auf, wenn ich eine Idee habe, das ist dann ein fiebriger Schreibrausch. Manche mögen sagen: Das klingt aber arg romantisch. Aber es ist halt so, ich kann das nicht emotionslos tun.

Haben Sie in Ihrem Leben noch für etwas anderes Zeit, außer für das Dirigieren, Komponieren und Klarinettespielen?

Widmann: Ja, auf jeden Fall: Freunde sind mir etwas ganz Wichtiges. Aber ich brauche auch Ruhezeiten zwischen den Projekten. Inzwischen versuche ich, das sogar zu planen. Wenn ich von einer Tournee zurückkomme, da brauche ich manchmal eine Woche, in der ich wirklich gar nichts tue, außer vielleicht in den Bergen wandern gehen. Gerade auch das Nichtstun, das einfach nur an die Wand gucken, ist für mich äußerst wichtig.