Wie Großeltern in Reserve

27.12.2007 | Stand 03.12.2020, 6:15 Uhr

Freiwillig drücken sie die Schulbank: Heidrun Sikora übt mit Bilal, Bulut und Eren lesen. Die Buben besuchen die 5. Klasse der Hauptschule an der Herschelstraße. - Foto: Rössle

Ingolstadt (DK) Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Weihnachtsansprache kritisiert, immer noch würden Menschen mit viel Kraft und Erfahrung aufs Altenteil abgeschoben. Das von Köhler geforderte neue Miteinander zwischen Jung und Alt ist an der Hauptschule Herschelstraße längst Wirklichkeit – beim so genannten Leseprojekt.

Das Leseprojekt für Rentner und Kinder der 5. Klassen läuft seit 2005 mit großem Erfolg und wird von der Jugendsozialarbeit an Schulen betreut. Träger ist die Caritas-Kreisstelle. Die Teilnahme ist für alle freiwillig, doch über mangelnden Zuspruch kann sich niemand beschweren – im Gegenteil: Viele Kinder haben sich von einer schlechten Note verbessert, und so etwas spricht sich schnell herum an der Herschelstraße.

Deshalb werden auch noch dringend weitere Senioren für das Leseprojekt gesucht. "So viele Kinder hier brauchen Hilfe", sagt Sozialpädagogin Silvia Knopp. Lehrerin Ursula Löschke bekräftigt dies: "In meiner Klasse sind ausschließlich Migrantenkinder." Günter Krömer, der früher bei Audi gearbeitet hat, meint, die Kinder hätten enormen Nachholbedarf: "Ihr Wissen hat Löcher wie ein Schweizer Käse. Wir Senioren haben bei dem Projekt die einmalige Chance, jungen Menschen beim Start ins Leben zu helfen."

Im Verlauf des Leseprojekts entwickelten sich zwischen einigen Rentnern und Kindern engere Bindungen, aus denen inzwischen Patenschaften wurden. Jürgen Rimrod zum Beispiel, ein ehemaliger Berufssoldat, macht schon im dritten Jahr bei dem Projekt mit und kümmert sich zurzeit um den 13-jährigen Alexander. "Der Bub kommt immer montags zu mir nach Hause, damit er mal ein anderes Umfeld hat. Erst isst er etwas, dann liest er den Sportteil der Zeitung, und anschließend lernen wir gemeinsam." Alexander hat es nicht leicht im Leben, was auch familiäre Gründe hat. Umso wichtiger ist es für den Jugendlichen, in Rimrod eine Art Großvater gefunden zu haben, der ihn unterstützt.

Dietmar Tank kommt als ehemaliger Schulleiter sogar vom Fach. "Ich bin deshalb Nachhilfeexperte für schwierige Schüler und Vorbereitung auf die Realschule." Tank kümmert sich intensiv um ein türkisches Mädchen. "Sie schafft jetzt vermutlich die M-Klasse", sagt Lehrerin Ursula Löschke.

Joachim Rudolph, ehemals Schichtleiter bei einer Raffinerie, hat sich bereits im Sportverein für die Jugendarbeit engagiert. Erst kümmerte er sich ein Jahr lang um Kinder mit Leseproblemen an der Hauptschule, dann nahm er sich speziell eines Buben an, der jetzt die M-Klasse besucht. "Der war sehr ehrgeizig, dem machte das richtig Spaß, denn er sah, dass es voranging", erzählt der Rentner. "Auf der Basis möchte ich mich weiter engagieren."

Es fällt auf, dass beim Leseprojekt so viele Männer mitmachen – wo doch ehrenamtliche Arbeit im sozialen Bereich, zumal mit Kindern, eher Frauensache ist. Der Grund: Das Team setzt sich vornehmlich aus Mitgliedern der so genannten "Niederländter" zusammen. Das ist ein Herrenverein, der im Jahr 1900 in Ingolstadt von Offizieren und Akademikern gegründet wurde und sich dem gepflegten Humor und der Kunst verschrieben hat.

Es ist aber auch ein Ehepaar mit von der Partie: Die Sikoras, die sich bereits im Rahmen des Programms "Soziale Stadt" einbringen und so zum Leseprojekt kamen. Die beiden haben zwei Patenkinder, ein indisches Geschwisterpaar, das sie seit zwei Jahren betreuen: "Wir lernen nicht nur, sondern machen auch Ausflüge ins Deutsche Museum nach München oder zum Schulerloch", erzählt Heidrun Sikora. "Wir sehen uns als Reservegroßeltern und haben Kontakt zu den Eltern. Der Vater sagte uns, er mache sich nun keine Sorgen mehr um seine Kinder."

Sozialpädagogin Silvia Kopp lobt den Einsatz der Rentner in höchsten Tönen: "Mir blüht das Herz auf, wenn ich sehe, wie sich die Senioren da reinhängen. Sie haben alle einen langen Atem und geben nicht auf, wenn etwas nicht sofort klappt. Ohne ihre Hilfe würden diese Kinder durchs Raster fallen und verloren gehen."