"Wie ein Urlaubstag von zu Hause"

13.03.2009 | Stand 03.12.2020, 5:07 Uhr

Fast wie beim Lotto. Im Jackpot ist aber nur eine Praline. Die bekommt, wer beim Bingo vier Richtige hat. Das Spiel ist bei den Besuchern der Caritas-Tagespflege in Ringsee sehr beliebt. "Aufsichtsbeamtin" ist die Krankenschwester Susanne Wenz (l.). - Fotos: Stückle

Ingolstadt (DK) Es duftet nach selbst gebackenem Kuchen. Der anheimelnde Geruch steigt einem schon am Eingang in die Nase. Kindheitserinnerungen werden wach. Das ist gewollt. "Unsere Besucher sollen sich wie zu Hause fühlen", sagt Christina Müller, die Bereichsleiterin für Tagespflege in der Caritas-Sozialstation.

Wenn der Fahrdienst morgens um 8 Uhr die ersten Besucher bringt, haben Susanne Wenz und Cornelia Herrmann schon einen kleinen Teil ihrer Arbeit getan. Der an Omas Backstube erinnernde Kuchen kommt nachmittags zur Kaffeestunde auf den Tisch. Vorher sorgen die beiden gerontopsychiatrisch weitergebildeten Krankenschwestern Christina Müller und Susanne Wenz, Helferin Cornelia Herrmann, Zivi Alex, Praktikant Philip und Ferdinand, der bei der Caritas ein freiwilliges soziales Jahr absolviert, dafür, dass es den Damen und Herren, die an diesem Dienstag die Tagespflege an der Geisenfelder Straße besuchen, nicht langweilig wird.

Vorher zum Friseur

"Für manche ist es das Highlight der Woche", erzählt Caritas-Geschäftsführer Josef Dürr. "Sie gehen sogar extra vorher zum Friseur." Auch die Angehörigen sehnen den Tag herbei. Was der Dienstag, wenn sie ihren Mann Gerhard in die Tagespflege bringt, für sie bedeutet, erklärt Gisela Jentzsch: "Ich hab’ dann einen Tag frei."

Normalerweise pflegt die 76-Jährige ihren 85-jährigen, fast blinden Mann zu Hause. Die freie Zeit nutzt sie, um Dinge zu erledigen, zu denen sie sonst nicht oder nur mit Mühe kommt. "Und manchmal auch, um mich einfach zu erholen." Zwei Stunden Mittagsschlaf gehören dazu.

Kurz vor halb neun liefert Johann Leikam seine Frau Gertrud ab. "Jetzt hab’ ich ein paar Stunden zum Ausschnaufen", sagt der 74-Jährige. Schwester Christine wird der eher schüchtern wirkenden Besucherin später eine weiße Rose überreichen. Gemeinsam singen ihr alle ein Ständchen. Vor wenigen Tagen hatte Gertrud Leikam ihren 71. Geburtstag.

Gerhard Jentzsch gehört bei der Caritas-Tagespflege fast zum Inventar. Seit November 2007, also schon kurz nachdem die Tagespflege in Ringsee eröffnet wurde, kommt er einmal die Woche hierher. Auf die Schwestern lässt er nichts kommen. "Die sind alle erstklassig, eine ist besser als die andere." Und auch mit den anderen Gästen versteht er sich gut.

Sein Handicap bemerkt man erst auf den zweiten Blick. Am Blindenstock, den Jentzsch stets bei sich hat. "Ich sehe die Gesichter nicht", sagt der Mann und nutzt die mediale Gelegenheit gleich, sich darüber zu beschweren, dass sein Pflegegeld vom Blindengeld abgezogen wird. Der alte Mann ist gut drauf, hat stets einen flotten Spruch auf den Lippen. "Sie müssen mal zusammenrechnen, wie viel hundert Jahre hier sitzen", scherzt er.

13 betagte Damen und Herren haben an dem großen Tisch im Gruppenraum Platz genommen. Rote und gelbe Tulpen bringen Frühlingsatmosphäre in den grauen Regentag. Frische, freundliche Farben begegnen einem in der Tagespflege-Einrichtung überall. An den Wänden, Vorhängen und in dem kleinen mit Schrankwand und Sofas ausgestatteten Wohnzimmer-Bereich.

Die Farbe Rot hat in der Einrichtung einen besonderen Zweck: Sie dient der Orientierung. Rote Türen – etwa zu den sanitären Anlagen oder zum Garten – dürfen jederzeit geöffnet werden. Die Haustür ist grau. Auch sie ist nicht verschlossen, jedoch mit einem Alarm versehen. Verirrt sich jemand nach draußen, sorgt der Signalton dafür, dass dies umgehend bemerkt wird. Das muss so sein. Denn etwa 60 Prozent der Besucher von Tagespflege-Einrichtungen leiden an Demenz.

Der 68-jährige Heinrich S. hatte mehrere Schlaganfälle. Die Schwestern kümmern sich liebevoll um ihn. Er schenkt jeder ein charmantes Lächeln. Aber nach einiger Zeit fragt er immer wieder nach seiner Frau. Dass sie wie an jedem Wochentag in der Arbeit ist, hat er vergessen.

Alles muss seine Ordnung haben. Jeder hat seinen bestimmten Platz. Die Sitzordnung für jeden Wochentag ist einer Stecktafel im Büro der Bereichsleiterin zu entnehmen. Am Dienstag sitzt die 80-jährige Ingolstädterin, die seit einem Jahr herkommt, wie jeden Dienstag neben ihrer ehemaligen Nachbarin. Sie sagt über die Tagespflege: "Es ist wie ein Urlaubstag von zu Hause."

Kostenloser Schnuppertag

Ein paar Plätze weiter sitzt – perfekt geschminkt – im eleganten cremeweißen Pullover eine 95-Jährige. Sie ist durch ihre Tochter auf die Tagespflege aufmerksam geworden. Normalerweise lebt sie ganz allein. "Aber ich hab’ jemanden zum Putzen." Diesmal hat die alte Dame eine Bekannte mitgebracht. Und die ist von der Tagespflege vollauf begeistert. Es ist die Abwechslung vom tristen Alltag und der Umgang mit anderen Menschen, was der 79-Jährigen aus dem Egerland so gefällt. Am liebsten, erzählt sie, würde sie jeden Tag herkommen.

Doch das wird nicht gehen. Denn bislang hat die Frau nicht einmal eine Pflegestufe. Sie weiß weder, dass es so etwas gibt, noch wie man es beantragt. Nach dem Schnuppertag, an dem nur ein geringer Obolus fürs Essen berechnet wird, müsste sie die Tagespflege aus eigener Tasche bezahlen – täglich um die 40 Euro. Schwester Christine erklärt ihr, dass die meisten ohnehin nicht jeden Tag, sondern nur einmal die Woche kommen. Wenn die "Alltagskompetenz auf Dauer erheblich eingeschränkt ist", die Frau also bestimmte Kriterien erfüllt, die eine Demenz erkennen lassen, könnte sie in die Förderung für Demenzkranke fallen. Die Tagespflege würde dann bezahlt. Ansonsten wird sich die Rentnerin die Abwechslung wohl nicht auf Dauer leisten können.

An diesem Dienstag genießt sie den Tag dafür um so mehr. Schwester Susanne und die anderen im Tagespflege-Team sind nicht nicht nur Pfleger, sondern vor allem Unterhalter. Während Schwester Susanne das Neueste aus dem DONAUKURIER vorliest, flößt Helferin Conny einer alten Dame den Tee ein. Nach der Zeitungslektüre gibt es etwas "für den Kopf". Sprichwörter ergänzen ist angesagt. Auch mit anderen Wortspielen werden die grauen Zellen trainiert. Wie heißt ein männliches Tier, dessen Name auch als Schimpfwort für einen Mann herhalten muss? Gesucht wird der Begriff Gockel. An diesem Tag stehen "Hund" und "Rindvieh" hoch im Kurs.

Sitzgymnastik, Singen und Schunkeln – wem das zu viel wird, der geht in den Ruheraum. Die Trinkmenge für die alten Menschen wird genau dokumentiert. Vor dem Essen, das Zivi Alex von der Finanzamtskantine abholt, sprechen die Senioren gemeinsam ein Tischgebet. Zum Essen erklingen leise Walzermelodien.

Niemand spricht dabei. Suppe, Putengeschnetzeltes und der Joghurt als Nachtisch schmecken so gut, dass der eine oder andere einen Nachschlag gerne annimmt.

Gemeinsames Lied

Nach einem gemeinsamen "Verdauungslied" ist Mittagsruhe. Gerhard Jentzsch macht es sich in einem Ohrensessel bequem, andere sitzen in Decken eingehüllt auf der Couch oder einem Relaxstuhl und nicken wenig später ein. Die Schwestern räumen derweil ganz leise die Küche auf. Dann haben auch sie endlich Zeit, einen Happen zu essen.

Nach dem Nachmittagskaffee – jetzt gibt es endlich den selbst gebackenen Marmorkuchen – ist eine Runde Bingo angesagt. Wer vier Zahlen ausgestrichen hat, bekommt von Zivi Alex eine Praline. Dann wird es Zeit, sich fertig zu machen. Achteinhalb Stunden Abwechslung vom Alltag gehen zu Ende. Die Besucher der Caritas-Tagespflege – und ihre Angehörigen – freuen sich schon auf nächsten Dienstag.