Neuburg
Wettstreit der Besten

Maurice Steger sollte der Star der Neuburger Barockkonzerte sein – der Geiger Dmitry Sinkovsky lief ihm den Rang ab

11.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:42 Uhr

Konzert mit grandiosen Solisten Maurice Steger (Blockflöte) und Dmitry Sinkovsky in Neuburg - Foto: Löser

Neuburg (DK) Das Barockzeitalter war auch die Ära der Supervirtuosen. In London wurden für horrende Summen Kastraten-Sänger aus Italien engagiert, die dann wie Popstars angehimmelt wurden. Farinelle war der berühmteste unter ihnen. An den italienischen Opernhäusern wurde in dieser Zeit der Begriff der Primadonna erfunden. In Norddeutschland trug man Orgelwettstreite aus, und in Italien feierten die Musikfreunde Geigenvirtuosen wie Giuseppe Tartini. Das Publikum hungerte nach Akrobaten der Musik. Und die Komponisten trugen dem Rechnung, indem sie den Künstlern Freiräume gewährten, Gelegenheiten für Verzierungen und Firlefanz, für Kadenzen und Kapriziöses. Vor allem aber liebten die Zuhörer die Konkurrenz.

Beim zentralen Konzert der diesjährigen Neuburger Barockkonzerte konzentrierten die Veranstalter sich auf diesen Aspekt des Wettstreits – allerdings eher unfreiwillig. Geplant war nämlich eher ein Star-Abend: Maurice Steger, der „Paganini der Blockflöte“, gastierte mit dem Helsinki Baroque Orchestra. Aber neben dem Star tauchte noch ein zweiter Künstler auf, nicht ganz so bekannt, aber grandios, ja atemberaubend, der dem Blockflötist an diesem Abend im Kongregationssaal den Rang abzulaufen drohte: Dmitry Sinkovsky. Wie wenig das zu erwarten war, zeigt das Programmheft. Die Veranstalter hatten vergessen, den Künstler auch nur vorzustellen. Dabei ist Sinkovsky kein unbeschriebenes Blatt. Der 35-jährige Moskauer Barockgeiger ist bereits mit Ensembles wie dem berühmten Barockorchester Il Giardino Armonico aufgetreten, hat wichtige Preise gewonnen und arbeitete mit Sängern wie Joyce DiDonato zusammen. Vor allem aber ist Sinkovsky ein Multitalent: Er spielt nicht nur blendend Geige und Viola, sondern ist auch ein hinreißender Dirigent und ein Countertenor ersten Ranges. Kein Wunder, dass da das Konzert zum inoffiziellen Wettstreit wurde, besonders da zahlreiche reine Virtuosen-Werke auf dem Programm standen.

Aber der Abend begann eher ruhig. Steger überließ dem Geiger und Orchesterleiter Sinkovsky das Feld. Der zeigte bei einem Concerto grosso von Arcangelo Corelli (Nr. 11) und einer Sinfonia des schwedischen Komponisten Johan Helmich Roman, was für ein Temperament in ihm steckt. Das finnische Barockensemble produzierte einen süffigen, sehr farbigen Klang, fast ganz ohne Vibrato. Die Bassgruppe mit Kontrabass, Cello, Theorbe und Fagott sorgte für eine kraftvolle Grundierung. Sinkovskys Stil erinnert ein wenig an den Manierismus von Il Giradino Armonico. Er kostet Extreme aus, liebt wuchtige, überraschende Einsätze, Kontraste zwischen folkloristisch swingender Melodik (bei Roman) und Funken sprühenden Geigenkaskaden. Und er genießt die barocken Freiheiten, wenn er beim Corelli Verzierungen aus dem Nichts kommen lässt, sie in einem großen Atembogen mit wahnwitzigem Tempo über alle Saiten und zurück ins Unhörbare führt.

Zum ersten Zusammentreffen der beiden Solisten, ja zum ersten Schlagabtausch, kam es bei Bachs viertem Brandenburgischen Konzert. Zusammen mit der jungen Flötistin Laura Schmid trat Steger dem Geiger Sinkovsky gegenüber. Die beiden spielten sich nicht nur die Bälle zu, sondern schienen sich übertreffen zu wollen. Niemand gab im Tempo nach, sodass besonders im Schlusssatz eine atemlose Spannung, ein Rausch der Geschwindigkeit entstand, der den Saal mitriss. Allein das Barockorchester wirkte durch den Einsatz Sinkovskys ein klein wenig alleingelassen und agierte so weniger aggressiv.

Nach der Pause prallten die Virtuosen unmittelbar aufeinander. Zunächst spielte Steger in kleiner Orchesterbesetzung ein von Pietro Castrucci bearbeitetes Corelli-Konzert (op. 5, Nr. 8). Besonders in der „Giga“übertraf sich Steger selber. Vor Verzierungen überwand die Flöte die Schwerkraft irdischer Melodik, schien abzuheben in andere rauschhafte Sphären, jenseits der Welt des physisch Möglichen.

Aber es sollte noch besser kommen mit Sinkovskys Version des Vivaldi-Konzerts „Grosso Mogul“ – ein ruppiges Werk, mit schroffen Orchesterschlägen, einer wahnwitzigen Kadenz und einem schmachtenden langsamen Satz. Sinkovsky spielte das mit so aberwitziger Virtuosität, mit hinreißenden, hingehauchten Verzierungen und einem wütend hingeknallten Schlusssatz. Konnte dieses Feuerwerk von Steger noch einmal übertroffen werden?

Es konnte. Steger nahm sich das Flötenkonzert von Barbell vor und verwandelte seine C-Flöte zu einer Art Naturereignis, menschlich geschaffenem, dabei höchst kunstvollem Vogelgezwitscher aus überbordend virtuosen Arpeggien, Läufen, Kaskaden des Wohlklangs. Ein Wunder! Das Publikum raste. Aber war das schon alles?

Mehr Virtuosität konnte nicht mehr aufgeboten werden. Das berauschte Publikum konnte nur mit völlig anderen Mitteln noch einmal gebannt werden: Sinkovsky gab die Geige ab und sang als Zugabe zwei Barockarien. Der Begriff betörend greift hier zu kurz. Sinkovsky hat eine Stimme mindestens vom Rang eines Andreas Scholl. Sein Countertenor spricht völlig mühelos und unverkrampft an, wirbelt mit Leichtigkeit über die Oktaven und klingt dabei rein und brillant, intonationssicher und kristallklar. Ein phänomenaler Musiker, der sich völlig verausgabt. Was für ein Ausklang eines denkwürdigen Konzerts!