Berlin
Wenn sich Mehrarbeit nicht lohnt

Bertelmanns-Studie: Steuer- und Sozialsystem benachteiligt Geringverdiener

17.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:38 Uhr

Berlin (DK) "Die effektive Grenzbelastung" - es ist ein sperriger Begriff, den sich die Bertelsmann-Stiftung vorgenommen hat. Er beschreibt, wie viel von jedem zusätzlich verdienten Euro an Steuern, Sozialbeiträgen und den Entzug von Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag abgegeben werden muss.

Kurz: Die effektive Grenzbelastung zeigt, ob und in welchem Maße sich Leistung und Mehrarbeit lohnen. Laut der neuen Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung bedeutet mehr brutto gerade bei Geringverdienern nicht zwangsläufig mehr Geld im Portemonnaie.

So zeigen die Forscher, dass bei einem Singlehaushalt mit einem Jahresbruttoeinkommen zwischen 14 400 und 17 700 Euro von einem zusätzlich verdienten Euro nichts übrig bleibt. Hintergrund sind die Zuverdienst-Regelungen für Hartz-IV-Aufstocker und die steigende Einkommensteuer. Zum Vergleich: Bei einem Single, der auf 75 000 Euro brutto im Jahr kommt, bleiben von einem Euro immerhin noch 56 Cent mehr.

Oft wird in der Entlastungsdebatte allein die Steuerbelastung betrachtet, das Zusammenspiel mit Sozialabgaben, Beitragsbemessungsgrenzen und Transferleistungen ausgeblendet. Alleinerziehende mit geringem Einkommen haben weniger von Mehrarbeit als Top-Verdiener, wie ein weiteres Beispiel der Forscher belegt. Bei einer Alleinerziehenden beträgt die effektive Grenzbelastung bis zu einem Einkommen von knapp 23 800 Euro durchgängig mehr als 60 Prozent. Von einem Euro mehr Lohn bleiben 40 Cent oder weniger übrig. Erst ab einem Einkommen von knapp 44 000 Euro sinkt die Belastung auf 44 Prozent. Es gibt aber auch Fälle, in denen Mehrarbeit zum Minusgeschäft wird - etwa bei einer Alleinerziehenden mit einem Kind und einem Jahresbrutto von 19 570 Euro. Hier steigt die Grenzbelastung auf 120 Prozent. Im Klartext: Ein Euro mehr Lohn bedeutet 20 Prozent weniger im Geldbeutel. Hintergrund ist, dass ab dieser Schwelle kein Anspruch auf den staatlichen Kinderzuschlag besteht.

Die Beispiele befeuern die Wahlkampfdebatten um Steuern und Abgaben. "Die Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt einmal mehr, dass die ausschließliche Debatte um Spitzensteuersätze viel zu kurz greift. Es ist dringend notwendig, das Zusammenspiel von Steuern und Abgaben und dem Transfersystem in den Blick zu nehmen", erklärte SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel gestern im Gespräch mit unserer Berliner Redaktion. "Der SPD geht es im Gegensatz zur Union dabei nicht um Steuerentlastungen mit der Gießkanne, die vor allem Spitzenverdienern zugutekommt." Kleine und mittlere Einkommen sollten bei Sozialabgaben und Steuern gezielt entlastet werden. "Die Union ist bis heute ein durchgerechnetes Steuer- und Abgabenkonzept schuldig geblieben", so Schäfer-Gümbel.