Wenn die Demokratie ihre Kinder frisst

15.05.2009 | Stand 03.12.2020, 4:57 Uhr

Politischer Diskurs im Theater: Szene mit Ralf Lichtenberg (links) und Matthias Winde. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) Krankheit, Tod und Eifersucht, eine neue Liebe oder eine schal gewordene – solche kleinen oder großen persönlichen Dramen verursachen Risse im Leben. Aber kann das Leiden an der Gesellschaft, an der Politik ebenso große Risse verursachen? Es kann, wird glauben, wer sich "Mythos, Propaganda und Katastrophe" im Kleinen Haus des Theaters Ingolstadt ansieht.

Während die erfolgreiche Drehbuchautorin Eve Serien für CSI und Skripts für Michael Douglas schreibt, wird ihre Beziehung hohl. Der klassische Thirtysomthing-Ärger zeichnet sich ab: Der ökonomische Teil der Wunschbiografie erfüllt sich, der biologische in Gestalt des unerfüllten Kinderwunsches nicht. So weit, so Standard. Doch das Stück des australischen Autors Stephen Sewell (56) geht viel weiter. Eves Mann Talbot Finch ist Professor an einer Eliteuniversität, referiert vor seinen Studenten über die Werte der Demokratie und führt mit der gebührenden Prise Sarkasmus des gereiften Altlinken sein gepflegtes Leben mit Blick über Manhattan. Bis zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers fliegen. Bis man mit befreundeten Akademikern auf der Dinnerparty ernsthaft über "gute" Folter reden muss. Bis der Patriot Act die Bürgerrechte aushebelt. Genau hier ist die Sollbruchstelle, die Sewells Stück von der Massenware unterscheidet. Ein namenloser, schwarz gekleideter Mann bricht in Talbots Leben ein, misshandelt ihn brachial, verschwindet und scheint einen Augenblick später nur noch eine Chimäre zu sein. Gibt es ihn wirklich? Auf den Überwachungsbändern ist er nicht zu sehen. Dreht Talbot durch? Oder ist eine Verschwörung im Gange?

Stephen Sewell zitiert aus Kafkas "Prozess", mehrfach wird der berühmte Eingangssatz gesprochen, der hier lautet: "Jemand musste Professor Finch verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines morgens verhaftet." Und tatsächlich: Wie im "Prozess" verselbstständigt sich das Geschehen, wechseln Gut und Böse die Fronten, wird, was gerade noch Gewissheit war, jetzt schon zur Wahnvorstellung.

Das Ensemble des Theaters Ingolstadt trägt geschlossen dazu bei, den komprimierten politischen Diskurs überzeugend auf die Bühne zu bringen, wobei der souveräne, mal wehrhafte, mal geschlagene, erstaunlicherweise aber nie ganz gebrochene Denker Talbot von Ralf Lichtenberg einen großen Anteil hat. Grandios ist auch Matthias Winde als jovialer, intelligent-intriganter Vorgesetzter, halb Heuschrecke, halb potenzieller CDU-Generalsekretär, im Duo begleitet von Sascha Römisch als gewieftem Anwalt. Und auch Evelyn Plank nutzt ihre kleine Rolle, um als alkoholgetränkte Funktionärsgattin alle Register zu ziehen.

Regisseurin Alice Asper hat hingegen davon abgesehen, mehr Register als nötig zu ziehen. Sie verlässt sich auf das Stück und überfrachtet den schwierigen Plot nicht mit pseudokreativen Einfällen. Das Bühnenbild (Heiko Mönnich) bleibt karg, dominiert wird der Raum von einer schmuddeligen US-Flagge und die so häufigen wie abrupten Szenenwechsel werden von leichter Hand mittels verschiebbarer Wände verwirklicht. Sie wischen manche Szene geradezu von der Bühne.

Schon der sperrige Titel "Mythos, Propaganda und Katastrophe" lässt ahnen, dass kein locker-leichter Theaterabend zu erwarten ist. In der Tat ist das Stück vor allem Kopf-Kino, ist politischer Diskurs und wendet sich an ein Publikum, das sich schon fragen lassen möchte, wo die Aufklärung begonnen hat und wo sie endet. Mancher Brecht ist da leichter zugänglich. Sewell indes muss sich an den großen Geistern, die er beschwört, schon messen lassen: Kafkaesk ist das, was auf der Bühne passiert durchaus. Aber ein Kafka ist es nicht.

Während auf den Theaterbühnen oft schon die Antworten verhandelt werden, geht es an diesem Abend um viele Fragen. Eine erfrischende Zumutung an das Publikum. Auf jeden Fall konnte für das Spielzeit-Motto des Theaters Ingolstadt – Demokratie – kaum ein treffenderes Stück gefunden werden. Während das ebenfalls in dieser Spielzeit gezeigte Büchner-Stück "Dantons Tod" bekanntlich davon zeugt, dass die Revolution ihre Kinder frisst, zeigt "Mythos, Propaganda und Katastrophe", dass die Gefahr besteht, dass auch die Demokratie ihre Kinder nicht verschont.