Neuburg
Wandlung einer Lebensmüden

a.gon Theater München gastiert mit "Veronika beschließt zu sterben" im Stadttheater

04.12.2014 | Stand 02.12.2020, 21:54 Uhr

Zweifel machen sich breit bei Veronika (Jenny-Joy Kreindl), die „jemanden umbringen wollte, den sie hasste“ und dabei auf eine andere Veronika stieß, „eine, die ich lieben könnte“. Dabei hilft ihr Dr. Igor (Werner Haindl) mit einem zweifelhaften Experiment. - Foto: Hammerl

Neuburg (DK) Sie ist eine gescheiterte Selbstmörderin, aber nicht verrückt. Und somit ein Störfaktor in dem berüchtigten Irrenhaus „Villete“, in dem sie nach ihrem Selbstmordversuch wieder aufwacht. Mit „Veronika beschließt zu sterben“ fesselte das a.gon Theater München sein Publikum im Stadttheater.

Denn das berührende Schauspiel wirft so manche Frage auf. Was ist eigentlich verrückt? Gut, Veronika ist es nicht, auch wenn die Krankenschwester (Eleonore Daniel) trocken anmerkt: „Das sagen alle hier.“ Wo aber sind die Grenzen? Rechtsanwältin Mari (Ursula Berlinghof) zum Beispiel bleibt mehr oder weniger freiwillig im Villete, weil „es mir draußen zu verrückt ist“. Sie kam mit Panikattacken und bleibt, weil die Irrenanstalt ihr einen geschützten Raum bietet. Zedka (Birgit Salkin) „war depressiv, als ich herkam, heute bin ich verrückt und stolz darauf“. Beide bemühen sich um Veronika, während Sebastian (Sebastian Sash) sie möglichst schnell loswerden will: „Stirb doch endlich, statt nur darüber zu reden.“

Tatsächlich ist Veronikas Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzten, ins Wanken gekommen, seit sie von Anstaltsleiter Dr. Igor erfahren hat, die Schlaftabletten hätten ihr Herz irreparabel beschädigt, es werde in den nächsten vier bis fünf Tagen aufhören zu schlagen. Mit ungeheurer Intensität mimt Jenny-Joy Kreindl die junge Lebensmüde, lässt ihr Publikum überzeugend an Veronikas Wandlungsprozess teilhaben. Zunächst kann es ihr nicht schnell genug gehen. Noch tagelang auf den Tod warten? Nein, das sieht sie als Zeitverschwendung an. Angst vor dem Tod? Nein, die hat sie nicht, „nur davor, sinnlose Zeit zu haben“. Veronika ist des Lebens überdrüssig, ohne dafür objektiven Grund zu haben. Sie ist jung, attraktiv, hat eine sichere Arbeitsstelle, eine gute Ausbildung, spielt wunderschön Klavier und Bekanntschaft mit Männern zu schließen ist auch kein Problem – allenfalls daraus eine Beziehung zuzulassen.

Dr. Igor, von Werner Haindl dargestellt in einer gelungenen Mixtur aus väterlichem Arzt mit besten Absichten einerseits und faustisch angehauchtem Wissenschaftler andererseits, überschreitet Grenzen, um seine Theorie zu beweisen. Die Theorie, dass bei Vitriolvergiftung nur das Bewusstsein des Lebens helfen könne. Als Vitriol bezeichnet er die weltweit um sich greifende Verbitterung, die mit fehlender Willenskraft und Entscheidungsschwäche einhergehe und die er mit dem Bewusstsein des Todes zu bekämpfen sucht.

Ob es ihm bei Veronika so erfolgreich gelungen wäre, wenn da nicht noch Eduard (Michael Stoerzer) wäre, dem Autor Paulo Coelho autobiografische Züge verliehen hat, sei dahingestellt. Stoerzer hat die vielleicht schwierigste Rolle. Wie er mit roboterhaften Bewegungen und sprechenden Augen den schizophrenen Katatoniker verkörpert, hat Gänsehautcharakter, sein Erwachen aus der selbst gewählten Stummheit ebenfalls und wenn er sich ans Rezitieren macht, hängt einfach jeder Zuschauer an seinen Lippen. Seine wundersame Genesung am Ende erscheint etwas abrupt, könnte aber der Bühnenadaptation des Romans geschuldet sein oder – mit ein wenig gutem Willen und Optimismus – der Entstehungsgeschichte seiner Erkrankung. Die Eltern hatten ihn ins Irrenhaus gesteckt, um ihm die Idee einer Künstlerkarriere auszutreiben – analog zur Biografie des Autors.

Keine Türen, schon gar nicht verschlossene, halten die Anstaltsinsassen fest. Wände sind ebenfalls nicht vorhanden, nur halbdurchsichtige Gazestreifen, an Fenster erinnernd. Und dann ist da noch das Klavier, das wohl wichtigste Requisit. Es gibt nicht nur Veronika, der der Doktor die Herzschwäche nur mittels Medikamente vorgetäuscht hat, den Lebensmut zurück, sondern ihr Spiel weckt auch Eduard aus seiner Starre. Streckenweise erinnert die Inszenierung von Peter Bernhardt an den Zauberberg von Thomas Mann. Bizarre Szenen spielen sich im Villete ab, bleiben aber wohltuend kurz und unterstreichen so noch den tiefgründigen Charakter des Werkes, das vom durchgängig professionell und ausdrucksstark agierenden Ensemble ohne Längen vorangetrieben wird. Ein berührendes, dabei kurzweiliges Theaterstück, denn die Dialoge sind trotz des ernsten Charakters von feinstem trockenen Humor durchzogen.