Wahlkampftour in die soziale Wirklichkeit

02.09.2008 | Stand 03.12.2020, 5:38 Uhr

Im Schatten schmuckloser Wohnblocks: Sabrina Lange (l.) zeigte Jürgen Siebicke das Konzept des Piustreffs, die Sozialpädagogen Manfred Lindner (M.) und Thomas Feil erläuterten das Umfeld. - Foto: Rössle

Ingolstadt (DK) Der Sozialdienst katholischer Frauen (SKF), Betreiber des Piustreffs, hat alle neuen Stadträte eingeladen, die Jugendeinrichtung zu besuchen. Am Montag nutzte Jürgen Siebicke (Die Linke) das Angebot. An der Seite des Jugendarbeiters Thomas Feil lernte er die Nöte dieses Problemviertels kennen.

Die Auseinandersetzungen währten lang und mit unnachgiebiger Entschlossenheit. Die rivalisierenden Jugendgruppen rangen hart um die Vorherrschaft. Jetzt ruhen die Kämpfe. Die wetterfeste Tischtennisplatte an der Pfitznerstraße ist befriedet worden. Auf brachiale Art. Wo sich einst die Jugendlichen aus dem Piusviertel im Schatten schmuckloser Hochhäuser treffen durften, ragt jetzt der Rohbau eines Wohnblocks in die Höhe, eng zwischen die Nachbargebäude gedrängt. Die Platte wurde versetzt, sie steht nun direkt neben einem verkümmerten Spielplatz.

"Genau das ist das große Problem hier", sagte Thomas Feil, "die ständige Verdichtung." Alles werde immer noch enger. Er kennt das Piusviertel und seine Sorgen bestens. Seit acht Jahren ist er als mobiler Jugendarbeiter unterwegs. Außerdem in Hollerstauden, im Papageienviertel, und nach Gerolfing wurde er auch schon geschickt. "Ich bin nur die Feuerwehr!"

Eine zweite Jugendarbeiter-Stelle täte dringend Not, findet Katharina Auchtor, die Vorsitzende des SKF. Seit 25 Jahren kämpft der Sozialdienst gegen die Tristesse im Piusviertel und für mehr Lebensqualität der Kinder hier.

Jürgen Siebicke nutzte die Gelegenheit, im Wahlkampf ein mögliches Stimmenreservoir für Die Linke zu erkunden. Seine Begleiter störte der Bezug zur Landtagswahl nicht. Auchtor versichert: "Das Interesse für sozial benachteiligte Bürger führt uns zusammen."

Zwischen Pfitzner- und Waldeysenstraße besichtigte der Besucher aus dem Stadtrat die soziale Wirklichkeit. "Wer will da schon wohnen", fragte Feil mehrmals. "Echt heftig" antwortete Siebicke. Öffnet sich im Grau der Wohnsilos mal eine Grasfläche, ist das Schild "Spielen verboten" nicht weit. "Da könnte man die Wiesen genauso gut betonieren und grün anmalen", merkte Siebicke mit bitterem Lächeln an. Feil erwiderte ernst: "Wo sollen sie denn hin, die Jugendlichen"

Etwa in den Piustreff. Stolz führte Katharina Auchtor den Gast durch das barackenähnliche Gebäude, zeigte den neuen Computerraum, die mit großer Eigenleistung der Jugendlichen eingerichteten, discotauglichen Säle, die Küche, in der ein Mal pro Woche für die Kinder gekocht wird ("Öfter geht’s nicht, aber wir wollen das Angebot ausweiten"), die Räume, in denen seit 1975 Deutschkurse für Mütter stattfinden (derweil die Kinder betreut werden) – alles Zeugnisse eines langen Bemühens um die Integration einer immer größer werdenden Zahl von Migranten, die im Piusviertel eng zusammenleben.

Die Sozialarbeiter begegnen dem ganzen Panoptikum gesellschaftlicher Probleme: heruntergekommener Wohnraum, sanierungsbedürftige Straßen, orientierungslose Jugendliche mit mangelnden Bildungschancen, Vandalismus, Armut, Alkoholismus, harte Drogen, Konflikte zwischen Russlanddeutschen und Türken.

Die Zerstörungswut sei der Begleiter der Jugendarbeit, sagte die Sozialpädagogikstudentin Sabrina Lange, die im Piustreff ein Praktikum absolviert. Die einen pflegen die Einrichtungen, dann kommen andere und randalieren. "Das ist ein steter Prozess." Aber sie gebe nicht auf. "Kleine Treffs bringen mehr als große Jugendzentren", sagt sie. "Das cliquenbezogene Konzept ist ein Erfolg."

Ein Brennpunkt sei das hier schon seit Jahrzehnten, erzählt Manfred Lindner, 1976 Jugendarbeiter der ersten Stunde, heute Direktkandidat der Linken. "Das ist einfach ein Ort der Verdichtung. Die Probleme sammeln sich." Erfolge müsse man "in Jahren messen", meint Feil. Heuer sei er auf zwei Hochzeiten eingeladen gewesen. Beide Male heiratete jemand, dem er aus der Obdachlosigkeit geholfen hatte. "Und das freut einen dann schon."