Bernried
Von Zwängen befreites Dasein

Wie die Brücke-Maler dem Geist der "Lebensreform" folgten, zeigt eine inspirierende Schau im Buchheim Museum

09.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:26 Uhr

Bewegte Zeiten: Von Karl Schmidt-Rottluff stammt dieser Stich einer Tänzerin. Wie seine Künstlerkollegen der Brücke war auch er von Tanz und Akrobatik begeistert. - Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Bernried (DK) Vegetarische Ernährung, viel Bewegung, frische Luft, selbst gestaltete Möbel - was wie eine zeitgenössische Gebrauchsanleitung aus einem Lifestylemagazin oder einem Sport- und Gesundheitsratgeber klingt, ist die zeitgeistige Lebenswelt der Brücke-Maler in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts.

Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde, Otto Mueller und Max Pechstein folgten den Ideen der sogenannten Lebensreform, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die sich verschlechternden Lebensbedingungen der Industrialisierung entwickelte und der sich nach und nach Esoteriker und Frauenrechtlerinnen, Lyriker und Philosophen, Tänzer und Freikörperkultur-Anhänger anschlossen.

Die Hinwendung zu einem befreiten Dasein, zu einer naturnahen und einfachen Lebensweise, zu den spirituell-esoterischen, ökologischen und nicht zuletzt körperlichen Ideen der Bewegung bebildert die Sonderausstellung "Brücke und die Lebensreform" im Buchheim Museum in Bernried am Starnberger See in anschaulicher und umfassender Weise. Es ist eine Zeitreise, die wieder in die Gegenwart zurückführt. Und auch deutlich macht, dass Ökokult und sexuelle Befreiung nicht erst in den 1960er- und 70er-Jahren zum Konzept der Hippie-Bewegung wurden. Der Schweizer Galerist und Leihgeber Wolfgang Henze schwärmt gar von einer "bewusstseinserweiternden" Schau.

Mehr als 150 Exponate von zahlreichen Museen und Privatsammlern sind zu sehen. Das Spektrum reicht von den sphärischen Gemälden eines Karl Wilhelm Diefenbach und dessen Schüler Fidus bis zu Werken aus den 20er-Jahren. Ausgestellt sind Gemälde, Lithografien, Stiche, aber auch Einrichtungsgegenstände.

Von Zwängen befreit frönten die Brücke-Maler dem Nudismus, der sich in den Bildern der vielen Badenden und der Aktdarstellungen in unberührter Natur oder exotischen Landschaften wiederfindet. Wie sehr sich die Künstler nicht nur in ihren Werken verwirklichten, sondern die alternativen Ideen mit sichtlicher Freude gelebt haben, belegen die selten ausgestellten Privataufnahmen und Fotografien: Kirchner als Nackedei tanzend in seinem Berliner Atelier, unbekleidete Frauen im Sprung - mehr luftige Kunstfigur als erotische Momentaufnahme. Sie sind allesamt Zeugnis der großen Leidenschaft der Brücke-Maler für den bewegten Körper, für Tanz, Turnen, Akrobatik. "Meine Malerei ist eine Malerei der Bewegung", schrieb etwa Kirchner um 1929 in eines seiner Skizzenbücher. Und wie bei seinen Kollegen meist in knalligen Farben und vereinfachter und ausdrucksstarker Formsprache. Im Kontrast zum akademisch-naturalistischen Stil und Wegbereiter für den Expressionismus.

Beeindruckend ist vieles: etwa das großformatige Gemälde von Kirchner "Totentanz der Mary Wigman" und die zeitgenössischen Aufnahmen der berühmten Ausdruckstänzerin. Umfassend sind die Themen: vom Exotismus, Primitivismus, bis zum Bohemien. Überraschend aber: die nach Entwürfen von Kirchner gestickten Kissenplatten, Teppiche, die bemalten (Atelier-)Wände und - ein Bett. Kirchner hatte es seiner Lebensgefährtin Erna Schilling aus Arven- und Föhrenholz geschnitzt. Nun steht es - nach aufwendigem und kostspieligem Transport - als Leihgabe aus Davos und Hingucker mitten in der Ausstellung.

Nach deren Besuch könnte man - inspiriert von all dem naturnahen Leben - am Ufer oder im Bernrieder Park inmitten üppiger Natur spazieren gehen oder einfach in den See hüpfen.