Aresing
Von Patientenwohl, Frust und Gängelei

Wolfgang Rostek ist Arzt aus Überzeugung.

18.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:17 Uhr
Wolfgang Rostek ist Arzt aus Leidenschaft. Aber die Rahmenbedingungen werden immer schlechter; das ärgert ihn maßlos. Für die Zukunft von Hausarztpraxen im ländlichen Raum sieht er schwarz, wenn sich nicht bald etwas ändert. −Foto: Privat

Aresing (SZ) Wolfgang Rostek ist Arzt aus Überzeugung. Mit seinen mittlerweile 65 Jahren ist der promovierte Mediziner eigentlich schon Rentner, und noch immer steht er Tag für Tag in seiner Aresinger Praxis. Die Leidenschaft ist geblieben. Aber er sieht düstere Schatten über dem System.

Er hat in seinen inzwischen 40 Berufsjahren alles erlebt, was man als Arzt erleben kann. Er hat Leben gerettet, er hat aber auch erleben müssen, wo die Medizin ihre Grenzen hat. Wie oft er nachts aufgestanden ist, um Notfälle zu versorgen, kann er nicht zählen. Bevor er nach Aresing kam, war er Hunderte Male im Hubschrauber zu Unfällen geflogen worden, Hunderte Kinder hat er in Krankenhäusern mit zur Welt gebracht. Als Landarzt ist er alles auf einmal: mal der Onkel Doktor, mal der hochqualifizierte Mediziner, manchmal auch Seelsorger und Freund in der Not. Kurz: Wolfgang Rostek kennt seine Branche aus dem Effeff.

Es tut ihm weh, dabei zusehen zu müssen, wie die Rahmenbedingungen immer schlechter werden. "Der Hausärztemangel auf dem Land ist hausgemacht", sagt er mit dem Brustton der Überzeugung. Wenn jetzt der hausärztliche Notdienst überall in Bereitschaftspraxen verlagert wird, dann empfindet er das als Pflaster auf Wunden, die schon lange bluten.

Es soll wieder attraktiver werden, Hausarzt auf dem Land zu werden, das erhofft sich die Kassenärztliche Vereinigung in Bayern (KVB). Jetzt. Dabei haben Landärzte schon vor über zehn Jahren ihre Stimmen erhoben und genau das vorausgesagt, was jetzt passiert ist. "2008 haben wir Hausärzte auf Verbandsebene Alarm geschlagen", sagt Wolfgang Rostek, "aber das wurde ignoriert." Er erinnert sich noch gut an das Jahr 2011. Da ist sein Schrobenhausener Kollege Wilfried Kohl in die Schweiz ausgewandert, wegen der Perspektivlosigkeit des Systems; mit ihm hatten allein in jenem Jahr über 250 bayerische Ärzte das Land verlassen. Anstalten, diesem Trend ein Ende zu setzen, waren damals nicht zu erkennen.

Inzwischen hat sich die Situation verschärft, auch im Schrobenhausener Raum. Immer wieder kann man diesen Hinweis hören: Was, wenn die Hausärzte, die jetzt um die 60 Jahre alt sind, aufhören? Da gibt es einige. Sie gehören der Generation an, für die es normal war, 50, 60, auch mal 70 Stunden pro Woche zu arbeiten, sie haben ja den Eid geschworen. Auch die nachkommende Generation will arbeiten, auch hart arbeiten, aber die Zeiten sind anders geworden, die Lebenskonzepte sind im Wandel. Frauen, die heute Medizin studieren, möchten Familie und Beruf unter einen Hut bringen. Das geht nicht leicht, wenn man auf dem Land rund um die Uhr für seine Patienten da sein soll.

Und für immer weniger Geld, wie Wolfgang Rostek berichtet. Bis vor ein paar Jahren gab es pro Kassenpatient noch gut 80 Euro je Quartal, heute sind es - da gibt es verschiedene Staffeln - noch rund 40 bis 60 , also 15 bis 20 Euro pro Monat. Und in dieser Pauschale ist alles drin. Wenn der Patient jede Woche in die Sprechstunde kommt? "Da gibt es nur dann etwas obendrauf, wenn eine chronische Krankheit vorliegt, sonst nichts", sagt Rostek. Wenn er Blut abnimmt und an ein Labor einschickt? "Ist mit der Pauschale abgegolten." Wenn er ein Rezept ausstellt? Rostek: "An den Rezepten oder an den Medikamenten verdienen wir nicht mit."

Extra-Geld gäbe es, wenn mit hoher Regelmäßigkeit Wundversorgung anfallen würde. "Dazu müsste sich aber täglich einer meiner Patienten verletzen", sagt Rostek und fügt sarkastisch hinzu: "Wir werden aber keinen Stolperdraht aufstellen, um zusätzliches Honorar zu generieren." Zusatzhonorare gebe es nur bei bestimmten Befunden wie etwa Demenz, Tumorleiden, Diabetes.

Eine Weile will er schon noch weitermachen, als Hausarzt auf dem Land, aber sicher nicht mehr Jahre. Ob er einen Nachfolger für seine Praxis findet? "Ich bin da nicht sicher", sagt er. Rostek unterhält seine Räume, er hat fünf Angestellte, er braucht ein Auto, Gerätschaften, muss Medikamente vorhalten - das muss sich unterm Strich rechnen. "Für einen langt's schon", sagt er. Aber wenn der Nachfolger oder die Nachfolgerin nicht bereit ist, regelmäßig 60, 70 Stunden pro Woche zu arbeiten, dann müssen die Einkünfte womöglich durch zwei geteilt werden - dann wird es zum Rechenexempel, ob es sich lohnt, eine Praxis zu übernehmen.

Möglich, dass es dann eines Tages keinen Hausarzt mehr in Aresing gibt. Und keinen in Hohenwart, in Waidhofen, in Gerolsbach, in den anderen Gemeinden. Dem allgemeinen Trend käme das entgegen, weiß Rostek: Zentralisierung, die Schaffung großer Einheiten.

Überall ist das spürbar. Es ist politisch ganz offensichtlich nicht gewollt, dass man sein Kind in der Heimat bekommen kann. Das Drängen, Kreißsäle erst ab 500, 600 Geburten pro Jahr zu betreiben, kommt aus Berlin, wie man inzwischen in Schrobenhausen weiß, am örtlichen Krankenhaus ist die Geburtshilfeabteilung längst dicht. Man findet kaum Gynäkologen für eine Landklinik, die horrenden Versicherungsprämien machen Hebammen das Leben schwer. Man kann das schon so sehen, dass politisch einiges dafür getan wird, um die flächendeckende Versorgung abzuschaffen. Überall schießen medizinische Zentren (MVZ) aus dem Boden - und die Menschen, die ohne öffentlichen Personennahverkehr, ohne Versorgung durch Bus oder Straßenbahn in den Dörfern leben, müssen schauen, wo sie bleiben.

"Das geht ja noch weiter", sagt Rostek. "Es gibt ja auch eine Bindung zwischen Arzt und Patient, die ist den Menschen etwas wert. Sie wollen keine Nummern in einem medizinischen Zentrum sein, sondern sie wollen mit Ärzten sprechen, die ihnen vertraut sind." Das endet, wenn die Versorgung vor Ort durch Behandlung in Zentren ersetzt wird. Dort kommt man an diensthabende Ärzte, aber eben nicht mehr an den Hausarzt von nebenan.

Immer mehr Hausärzte gehen inzwischen auf die Barrikaden. Gerade wird an der Gründung einer bundesweiten Ärztegewerkschaft gestrickt, um den Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern mit ihren Zwangsmitgliedschaften etwas entgegenzusetzen. "Es muss Schluss sein mit der Ideologie der Freiberuflichkeit". Diesen Satz sagte die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt vor über zehn Jahren. Es gibt nicht wenige Ärzte, die sagen, dass damit "der ungeschriebene Vertrag der freien medizinischen Berufe mit dem deutschen Staat über ein wechselseitig verständnisvolles Kooperieren auf dem Gesundheitssektor gekündigt" worden sei, nachzulesen in der sogenannten Hamburger Erklärung vom April 2017. Rostek gehört zu denen, die das so sehen.

Manche seiner Kollegen gehen noch weiter, sie sehen Interessen von privaten Klinikkonzernen, die mit Hilfe von Lobbyisten Monopolstrukturen anstrebten. Einige ihrer Thesen lauten so: Krankenhäuser machen politisch gewollte Defizite, um an Klinikketten verkauft zu werden. Und: Die niedergelassenen Ärzte verdienen politisch gewollt so wenig, dass der Nachwuchs ausbleibt, dass sie dann in MVZs gedrängt werden, die zuletzt den Klinikkonzernen gehören könnten. Was dazu führen würde, dass ärztliche Standestradition dem Streben nach Ertrag geopfert würde.

Ob was dran ist? Wolfgang Rostek, der sich seit Jahren auf Verbandsebene in die Diskussionen um seinen Berufsstand einbringt, kann sich das gut vorstellen.

Es würde in die Zeit passen. Eine Zentralisierungswelle erlebt auch das Bankenwesen. Das kleinstrukturierte deutsche System, das die Finanzkrise 2008 mit am besten in der Welt verkraftet hat, wird in Fusionen gedrängt. Schluss mit der Regionalisierung - auch hier. Und es ist die Zeit einer Landflucht. Vor ein paar Jahrzehnten galt das Leben auf dem Land als erstrebenswert, jetzt findet die Rolle rückwärts statt. Gar nicht so einfach für die Politik, in diesen Zeiten dem dritten Artikel der Bayerischen Verfassung gerecht zu werden, der die Förderung und Sicherung "gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern, in Stadt und Land" zur Aufgabe macht. Wie man bezahlbaren Wohnraum in den Ballungszentren schafft, ist in diesen Zeiten ein scheinbar drängenderes Problem als die medizinische Versorgung der zurückbleibenden Menschen auf dem flachen Land.

Nicht nur Wolfgang Rostek ärgert das. "Statistisch gesehen soll Schrobenhausen mit Hausärzten überversorgt sein", hört er immer, "das ist nicht die Realität. Es ist extrem viel Arbeit da, die Interessen der Bevölkerung sind bei den Kassenärztlichen Vereinigungen nicht in Sicht." Er findet: "Die KV regiert an den Bedürfnissen der Menschen vorbei." Viele Ärzte sehen das so.

Es geht natürlich auch um Geld. "Die meisten Praxen aller Fachrichtungen müssen ihre betriebswirtschaftlich nicht mehr führbare Kassenpraxis mit Einnahmen durch Privatpatienten subventionieren", sagt Rostek. Dabei sei die Gebührenordnung für die Privaten seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr angepasst worden, "kein Inflationsausgleich, nichts." Es sei auch kein Wunder, dass Kassenpatienten so schlecht Termine bei Fachärzten bekommen. "Der Facharzt bekommt pro Kassenpatient keine 20 Euro pro Quartal. Wenn jemand zwei- oder gar dreimal kommt, zahlt der Arzt drauf. Was also passiert?", fragt Rostek. Er spricht nicht aus, was er sagen will, er muss es auch nicht: Mit geschicktem Terminmanagement kann man halt dafür sorgen, dass ein Patient nicht zu oft pro Quartal kommt. In Verbandsveröffentlichungen ist dieser Vorwurf immer wieder nachzulesen.

"Diese Budgetierung gilt für Privatpatienten nicht", schreibt ein Arzt, der dann auch die Gretchenfrage stellt: "Wenn Sie als Arzt die Wahl hätten, entweder einen Patienten auf Ihre eigenen Kosten zu behandeln oder die entsprechenden Gesundheitsleistungen einem Patienten zugutekommen zu lassen, der für diese Leistungen bezahlt, wie würden Sie sich entscheiden?" Rostek zitiert diesen Standeskollegen, er ist überzeugt davon, dass das genau so läuft.

Um das Landarztdasein tatsächlich attraktiver zu machen, müsse am Honorarsystem geschraubt werden, findet er, und er ist sicher, dass das auch realisierbar wäre: "Der Anteil, den die Ärzte an den Kosten des deutschen Gesundheitssystems verursachen, liegt bei ungefähr 15 Prozent - ich kann nicht glauben, dass ein oder zwei Prozent mehr nicht darstellbar wären."

Und: Gerade die älteren Ärzte, die noch andere Zeiten miterlebt haben, fühlen sich von den Verbänden und Kammern "gegängelt" - ihnen fehlt die Freiheit, die der Status als Freiberufliche eigentlich mit sich bringen sollte. Statt ein freies Arzt-Patient-Verhältnis zu fördern, werde alles getan, um die Eigenständigkeit niedergelassener Ärzte zu untergraben. Immer mehr Bürokratie. "Seit ich all diese Formulare ausfüllen muss, weiß ich, warum ich als Arzt studiert haben muss", sagt Rostek mit einer gehörigen Prise Sarkasmus.

Dabei liebt er seinen Beruf. "Arzt zu sein, ist immer spannend. Ich habe ein breites Spektrum, einen schönen Beruf", sagt Rostek. Er sieht das aber auch so positiv, weil er in der glücklichen Situation ist, dass er jederzeit aufhören könnte, "ich bin ja offiziell schon Rentner."

Das macht es ihm leichter, manche Entwicklungen von sich abprallen zu lassen. Das ewige Hin und Her bei der Abrechnung, zum Beispiel. Die Sache mit den Medikamenten-Budgets. Wurden die überschritten, hatte das massive Regressforderungen seitens der KV zur Folge. Ein Kollege aus dem Schrobenhausener Raum hatte einmal viele tausend Euro an Strafe zahlen müssen, er selbst hatte da mehr Glück, bis auf einen nicht so wilden Fall.

Was ihn aber viel mehr ärgert ist so etwas: "Die Krebsvorsorge und Check ups waren immer außerhalb des Budgets, und das war auch sinnvoll. Also wurde das von vielen Kollegen auch aktiv angeboten - bis die Vorsorge ins Budget genommen und nicht mehr extra honoriert wurde. Ich habe damals meinen Mitarbeiterinnen gesagt: Wir machen das ganz normal weiter." Und nach ein paar Monaten kam die nächste Reform: Da war die Krebsvorsorge wieder aus dem Budget raus.

Wolfgang Rostek findet solches Hin und Her nervig. Er sagt: "Ich habe mich immer vom Wohl des Patienten leiten lassen. Was ich gebraucht habe, habe ich immer aufgeschrieben." Und wenn einer seiner Patienten nicht schnell genug einen Facharzttermin bekam, dann wurde eben die stationäre Lösung gesucht. "Wenn es um die Gesundheit geht, dann entscheide ich als Arzt und keine Kassenärztliche Vereinigung. Nur ich bin zuständig."

Das will er auch bleiben. Wolfgang Rostek fordert mehr Freiheit ein. Mehr Rechte. Weniger Bürokratie. Wenn am 1. Juni die Ärztegewerkschaft in Frankfurt gegründet wird, schaut er jedenfalls sehr genau hin. Möglich, dass er mit von der Partie ist. Nicht für sich. Aber für die Menschen auf dem Land, für seine Patienten, für seinen Berufsstand, der ihm auch nach all den Jahren immer noch heilig ist.

Mathias Petry