Eichstätt
Von der Vorsehung zur Selbstbestimmung

Vortragsreihe K'Universale: Susanne Knaeble sprach über Zukunftsvorstellungen in der deutschen Literatur

10.11.2021 | Stand 14.11.2021, 3:33 Uhr
Literaturwissenschaftlerin Susanne Knaeble aus Bayreuth referierte über neue Wahrnehmungsmöglichkeiten der Zukunft ab etwa 1500. −Foto: Luff

Eichstätt - Die interdisziplinäre Vortragsreihe K'Universale befasst sich in diesem Wintersemester mit "Zukünften", also Zukunftsvisionen aus philosophischer, theologischer, naturwissenschaftlicher, soziologischer und ökonomischer Sicht. Nachdem die ersten beiden Vorträge bereits Zukunftsentwürfe aus wissenschaftlicher und ethischer Perspektive boten, setzte nun Susanne Knaeb le aus Bayreuth bei der deutschen Literaturgeschichte an.

Dabei kam sie in ihrem rhetorisch dichten Vortrag zur Erkenntnis, dass sich im Prosaroman um 1500 ein Paradigmenwechsel im narrativen Umgang mit der Zukunft vollzogen hat: Während die mittelalterlichen Epen eine von Gott vorgegebene Zukunft weder hinterfragen noch planen, wandelt sich der Umgang mit einer nun offener gesehenen Zukunft in den Romanen der frühen Neuzeit in Richtung Rationalität und Autonomie.

Knaebles Ergebnisse beruhen auf Forschungen, die sie für ihre Habilitationsschrift durchgeführt hat. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Ausnahmefigur des Gelehrten Faust, der an der Schwelle zur Neuzeit einen neuen Menschentypen vertritt, der eine unglaubliche Begierde zeigt, sich zu entwickeln, und dafür sogar einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Damit betritt ein moderner Mensch die literarische Bühne, der eine völlig neue Zukunftsvorstellung vertritt. Auf welchem Weg diese "gestaltbare, offene Zukunft" im deutschen Prosaroman um 1500 konzeptionell entwickelt wurde, stellt die zentrale Fragestellung in Knaebles Untersuchung dar.

Dabei kam dem literarischen Diskurs im Roman der Frühen Neuzeit eine entscheidende Bedeutung zu, wie der Soziologe Niklas Luhmann und der Hermeneutiker Paul Riceur nahelegen: Erst in der Narration, in der Fabel des Romans sei der Grübelei des Menschen über die Zeit eine Antwort gegeben worden, die allen Zufällen und Unwägbarkeiten der Zukunft einen erzählerischen Rahmen gab und Risse auflösen konnte, die noch Augustinus als unauflösbar einschätzen musste.

Susanne Knaeble belegte ihre Hypothese, nach der neue Wahrnehmungsmöglichkeiten der Zukunft in diesen Romanen um 1500 erzählend erprobt werden, an vier Prosaromanen, von denen sie einen ganz besonders ins Zentrum ihres Vortrags stellte: den 1437 aus dem Französischen übersetzten "Hug Schapler" der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Dieser Ritterroman erzählt die sagenhafte Geschichte von Hugues Capet, der die Kapetingerdynastie begründete und als Nachkomme eines Metzgers durch Tapferkeit den Königsthron erlangte.

Elisabeths Roman stellte seinerzeit eine Art Bestseller dar und verrät - im Gegensatz zu mittelalterlichen Epen - ein starkes Interesse an Kausalität und Planung, um die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen. Diese neue Planungsautonomie zeigte Knaeble am Beispiel der Königin, der es gelingt, nach dem Tod ihres Mannes eine gedankliche Strategie gegen die Heiratspläne eines mächtigen Adeligen zu entwickeln und umzusetzen.

Geschichte manifestiert sich damit erstmals nicht mehr als Ergebnis göttlicher Providenz, sondern rationalen menschlichen Handelns. Diese Teilhabe an echten Entscheidungen stellte die Referentin als Novum des Prosaromans dar. Sie erforderten auch neue Erzählmodi, wie die eigens eingeführten Reflexionen und Gedankenreden. So entstand einige Zeit, bevor es das Wort "Zukunft" in der deutschen Sprache gab, bereits eine offene, selbstbestimmte Konzeption von ihr. Die damit einhergehende Handlungsfähigkeit, die im Wesentlichen auf einer Komplexitätsreduktion beruht, wünscht sich der Mensch des 21. Jahrhunderts auch heute noch.

Am kommenden Montag spricht der Technik- und Wissenschaftsforscher Daniel Barben aus Klagenfurt um 18.15 Uhr über "Zukunftsexpertise für eine bedrohte Welt: Perspektiven (nicht-)nachhaltiger Entwicklung".

rlu