Von Corbyn lernen?

Kommentar

25.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:16 Uhr

Während andernorts den etablierten Parteien die Mitglieder in Scharen davonlaufen, kann die britische Labour-Partei nicht klagen. Sie hat binnen Jahresfrist ihre Mitgliederzahl sage und schreibe verdreifacht - auf 640 000, was sie zur mitgliederstärksten Partei in Europa macht.

Ein solcher Boom in diesen Zeiten? Ausgelöst hat ihn Jeremy Corbyn, ein 67-jähriger Hinterbänkler aus dem britischen Unterhaus, der im September 2015 von den Labour-Mitgliedern überraschend zum Parteichef gewählt wurde und der nach Ansicht von Politstrategen und Parteifunktionären alles falsch macht, was man nur falsch machen kann.

Denn Corbyn buhlt nicht um die "politische Mitte", vermeidet eben nicht tunlichst Festlegungen, mit denen er anecken könnte, und gibt sich generell wenig angepasst und karriereorientiert. Stattdessen steht er zu seinen dezidiert linken Überzeugungen, die er auch hochhielt, als überall Sozialdemokraten ihr Heil im Neoliberalismus suchten. Als in Großbritannien noch unter Tony Blair und Gordon Brown Labour die Regierung stellte, stimmte der Abgeordnete Corbyn an die 500-mal gegen diese.

Corbyn ist Nato- und USA-kritisch, lehnt die Atombewaffnung seines Landes ab, hält es für unverantwortlich, staatliche Daseinsvorsorge wie Kraft- und Wasserwerke oder Infrastruktur wie die Eisenbahn profitorientierten Unternehmen zu überlassen. Zudem pocht er auf einen starken Sozialstaat, der auch den inzwischen abgehängten Teil der Bevölkerung wieder aufnimmt, um so gesellschaftlichen Sprengstoff zu entschärfen. Und er will Reiche stärker besteuern.

Das alles passt gar nicht in diese Zeit und in ein Land, das ganz auf einen ungezügelten Finanzsektor setzt. Darin sind sich Labour-Establishment, Konservative und die britischen Medien völlig einig. Die staatliche BBC bezeichnete ihn denn auch in einem Porträt als einen jener linken Politiker, die längst schon in den Mülleimer der Geschichte gehörten. In seiner eigenen Partei führte die Ablehnung Corbyns dazu, dass im Juni 172 von 212 Labour-Abgeordneten erst seinen Rücktritt vom Amt des Parteichefs verlangten und diesen dann mit einer Neuwahl erzwingen wollten. Doch wahlberechtigt waren nicht nur Parlamentarier und ausgesuchte Delegierte, sondern sämtliche Labour-Mitglieder. Und die verschafften Corbyn jetzt eine überzeugende Mehrheit. Was zu der Frage führt, ob einfache Parteigänger besser wissen, wer ihre Interessen vertritt als Funktionäre und Berufspolitiker mit Abgeordnetenbezügen. Sind am Ende solche "Experten" die Ursache für die Parteienkrise?

In anderen Länder hat der Unmut über eine politische Klasse, die in einer abgehobenen Welt angeblicher Sachzwänge nach eigenen Regeln lebt, dazu geführt, dass rechts-populistische "Anti-Parteien" großen Zulauf erhielten. In der Folge rückten auch bürgerliche Parteien immer weiter nach rechts, bis früher verpönte Haltungen hoffähig wurden.

Es ist ein interessantes Experiment, ob eine von Corbyn runderneuerte Labour-Partei dazu eine erfolgreiche Alternative abgeben kann. Eine Partei, die für Gradlinigkeit, Überzeugungen und moralische Werte steht. Nach dem jüngsten Votum der Basis kann das Experiment jedenfalls erst einmal weitergehen.