Ingolstadt
Vom Töten und Getötetwerden

Zum Abschluss der Literaturtage: Christoph Ransmayrs sprachgewaltige Lesung aus seinem Buch "Der Fallmeister"

24.06.2021 | Stand 23.09.2023, 19:23 Uhr
Christoph Ransmayr: grandioser Autor und grandioser Erzähler. −Foto: Weinretter

Erzählt er noch?

 

Oder liest er schon? Christoph Ransmayr kann beides. Beherrscht das Eine wie das Andere. Fasziniert vor allem durch seine einzigartige Sprachgewalt. Dass man mitunter nicht zu unterscheiden vermag, ob er in sein jüngstes Buch vertieft ist. Oder frei interpretierend aus seiner Gedankenwelt schöpft. Der grandiose Autor ist gleichermaßen ein grandioser Erzähler. Und als solcher beeindruckte der österreichische Schriftsteller im Rahmen der Abschlussveranstaltung der Ingolstädter Literaturtage einmal mehr. Kulturreferent Gabriel Engert hatte ihn dazu als Marie-Luise-Fleißer-Preisträger (2017) und als guten Bekannten in Ingolstadt begrüßen können. Vor allem aber als einen der "bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart".

"Mein Vater hat fünf Menschen getötet". Ein Satz wie ein Hammerschlag. Mit dem Ransmayrs jüngstes Buch "Der Fallmeister" beginnt. Und eben auch die Lesung daraus am Mittwochabend im Kulturzentrum neun begann. "Eine kurze Geschichte vom Töten ", so hat Ransmayr sein Buch genannt. Da stockte vielen Zuhörern schon einmal auf Anhieb der Atem unter den für den gesamten Abend vorgeschriebenen FFP2-Masken. Ransmayr ist sich bewusst - auch das erzählte er eingangs -, dass er mitunter als "Alpen-Apokalyptiker" gilt. Der etwa in "Der Fallmeister" eine überaus dunkle Dystopie - also eine ungünstige gesellschaftliche Entwicklung - eindrucksvoll, aber auch beängstigend aufrollt. Eine Art Apokalypse. Um das Ganze wirklich nachempfinden und verstehen zu können, wird man um das Lesen des Buches - sofern noch nicht geschehen - nicht herumkommen. Nicht herumkommen wollen. Allein schon auch wegen Ransmayrs gewaltigen Sprachbildern. Die den Leser förmlich wehrlos wie in einen tosenden Strudel in sich hineinsaugen. Ein dem Autor unnachahmlich eigenes Phänomen der mitreißenden Beschreibung selbst des größten Grauens, dass der Schönheit der Sprache keinerlei Abbruch tut. Sogar umso eindrucksvoller macht. Deutlich fühlbar und förmlich unter die Haut gehend gleich zu Beginn des ersten Kapitels. Als im gewaltigen Wildwasser ein Boot die gefürchteten Kaskaden des Weißen Flusses hinabstürzt.

Zum weiteren Inhalt: Fünf Menschen ertrinken. "Der Fallmeister", ein in den Uferdörfern geachteter Schleusenwärter, hätte dieses Unglück verhindern können und müssen. Als er ein Jahr nach der Katastrophe verschwindet, beginnt sein Sohn zu zweifeln: War sein jähzorniger, von der Vergangenheit besessener Vater ein Mörder? Die Suche nach der Wahrheit führt den Sohn des Fallmeisters tief zurück in die eigene Vergangenheit: Bildmächtig und mit großer Intensität erzählt Christoph Ransmayr von einer bedrohten Welt und der menschlichen Hoffnung auf Vergebung. Und dann verlässt Christoph Ransmayr für ein paar Augenblicke seinen Lesefluss. Erzählt einfach die Geschichte vom Eisvogel aus der Wasserwelt seiner Heimat. Bringt sein Werk damit in den Bereich der Literaturgattung einer Novelle. Erinnert an Giovanni Boccaccios Falkennovelle. Der kleine fliegende Edelstein wird zum einer Novelle eigenen Dingsymbol. Johann Wolfgang Goethe nannte es "eine unerhörte Begebenheit, die sich ereignet hat".

Christoph Ransmayrs unerhörte Begebenheit: "Eisvögel saßen als zerbrechlicher Baumschmuck reglos auf ihren Jagdzweigen, bevor sie sich, wie von einer im Inneren ihres blau leuchtenden Federkleides zündenden Explosion aus der Erstarrung geschleudert, auf dicht unter der Wasseroberfläche lauernde Glasfischchen stürzten, die dort ihrerseits auf Beute warteten. Jagende Eisvögel erschienen mir damals wie magische Vorführungen der Unausweichlichkeit des Tötens und Getötetwerdens. "

Gelüftet ist damit auch die Darstellung auf dem Cover des Buches. Das eben diese Szene zeigt. Und dann signiert Christoph Ransmayr völlig unprätentiös mitgebrachte oder gerade im Saal erworbene Bücher.

DK

 

Stephan Boos