Vom Schwinden der Chancengleichheit

19.06.2008 | Stand 03.12.2020, 5:49 Uhr

6000 Menschen in Ingolstadt sind überschuldet, sagen die Caritas-Berater Bernhard Gruber (l.) und Josef Wintergerst. - Foto: Silvester

Ingolstadt (DK) "Überschuldete Eltern – Arme Kinder" lautet das Motto einer Aktionswoche der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände, die heute zu Ende geht und auf die Not verschuldeter Familien aufmerksam machen will. Ein Problem, das laut Caritas auch in Ingolstadt immer drängender wird.

Es bedarf nicht vieler Zahlen, um das Fortschreiten der Armut im wirtschaftlich prosperierenden Ingolstadt drastisch vor Augen zu führen. Bernhard Gruber und Josef Wintergerst, die Sozialberater für Schuldner an der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt, benötigen genau eine Statistik: Zwei Euro kostet an der Herschelschule ein Mittagessen für Kinder, doch die Ausfallquote bei der Bezahlung beträgt 25 Prozent. Ein Viertel der Eltern kann oder will die zwei Euro nicht aufbringen. "Dabei wird am Monatsanfang abgebucht", berichtet Gruber. Er mag sich besser nicht vorstellen, dass das Geld einmal später eingehoben wird. "Dann wären es doppelt so viele, die nicht zahlen."

Die Armut gewinnt an Dramatik. Acht Prozent der Haushalte in Deutschland gelten als überschuldet, das betrifft sieben Millionen Menschen. Gruber und Wintergerst schätzen, dass die Quote in Ingolstadt bei fünf Prozent liegt; das entspricht fast 6000 Menschen, die mit Schulden ihre Not haben.

Der Preisentwicklung spitzt die Finanzsituation dramatisch zu. "Fatal ist die immense Steigerung der Stromkosten", sagt Gruber. Wer Arbeitslosengeld II beziehe, gerate unter Druck, denn die Energiekosten seien im Regelsatz nicht enthalten. Mitunter bedeuteten die Mietnebenkosten den Einstieg in die Schuldenspirale, weil das Jobcenter die Kosten nur in Form eines Darlehens übernehme. Und werden die Sätze mal angehoben, "dann fressen das die Lebensmittelpreise sofort wieder auf", sagt Wintergerst.

Bei Alleinerziehenden wird’s richtig eng. "Viele können sich Schulmaterial nicht mehr leisten." Eine Zeichenplatte werde da zur Großinvestition. Wintergerst: "Von Nachhilfe gar nicht zu reden." Schritt für Schritt geht die Chancengleichheit gegen Null.

Ein Drittel aller Familien, die von der Caritas beraten werden, ist unvollständig, wie es im Fachjargon heißt. Nicht wenige sind ohne eigenes Verschulden an den Rand der Insolvenz geraten. "Meistens kommen keine Unterhaltszahlungen." Die Experten von der Caritas wissen in der Regel auch warum: Zu ihren Klienten gehören getrennt lebende Väter en masse.

Familien (oder was noch davon übrig ist), die mal als wohlsituiert galten, geraten in großer Zahl in Not. Ein Fall ist exemplarisch: Ein Mann haut ab, lässt seine Frau und zwei Kinder mit Schulden zurück, die er allein angehäuft hat. Sie arbeitet drei Schichten im Wechsel, um leben zu können. Gruber: "Da kann man nur erahnen, wie die Kinder leiden."

Sollte es die Frau nicht schaffen und auf die Hartz-IV-Ebene rutschen, bestimmen ihr Leben neue Zahlen: die ALG-II-Regelsätze für Nahrung und Getränke. Erwachsene 4,45 Euro pro Tag, Kinder 2,67. Nach einem Essen in der Schule bleibt da nicht mehr viel übrig.