Ingolstadt
Visionäre Klangfülle jenseits der Grenzen

Quatuor Hermès und Alfred Brendel faszinieren mit "schwarzem Spuk" aus Schubert und Lyrik

11.07.2019 | Stand 23.09.2023, 7:44 Uhr
Beim Gesprächskonzert im Audi Museum mobile trat Alfred Brendel mit dem Quatuor Hermès (Omer Bouchez, Elise Liu, Anthony Kondo und Yung-Hsin Lou Chang) auf. −Foto: Audi

Ingolstadt (DK) Warum Schuberts letztes und gleichzeitig größtes Streichquartett zu seinen Lebzeiten kaum Beachtung fand, ja genau genommen noch immer nicht die ihm eigentlich gebührende Beliebtheit erreicht hat, ist unverständlich - gehört es doch als Gipfel all seiner Form- und Klangexperimente zum Aufwühlendsten und Erschütterndsten, was der Komponist (und vielleicht die Kammermusik überhaupt) jemals hervorgebracht hat.

Für den Jahrhundertpianisten Alfred Brendel, der seit Beendigung seiner Musikerkarriere verstärkt als Essayist und Lyriker in Erscheinung tritt - so auch an diesem Abend -, liegt die Begründung darin, dass das von Beethoven inspirierte Spätwerk Schuberts seiner Zeit weit voraus war: Erst aus heutiger Perspektive erschließt sich seine unerhörte Kühnheit in der Gestaltung, in den aufgebrochenen Formen und Harmonien, seine Zerrissenheit zwischen Dur und Moll, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Leben und Tod.

Dieses Quartett setzt neue Maßstäbe, wobei es durchaus "fantastische Züge" trägt, die sich nahtlos in das übergeordnete künstlerische Konzept "Fantastique! " der diesjährigen Audi-Sommerkonzerte einfügen. Wie die späten Streichquartette von Beethoven greift es weit in die Zukunft, steht ihnen nahezu eigenständig gegenüber. Im Gegensatz zum gerafft nach vorne orientierten "Architekten" Beethoven war Schubert jedoch nach Brendels Auffassung vielmehr ein "Schlafwandler", der sich tragen ließ von unmittelbarer Bewegtheit, von "selbsttätig wirkendem Musikverstand", vom Ehrgeiz nach Neuem - haarscharf vorbei an Abgründen, hin zum Ungewohnten, zum Gewagten, zum Verstörenden.

Diese grundstürzenden, experimentellen Strömungen finden ihre ideale Klangwerdung in der Darbietung durch die famose Formation Quatuor Hermès. Wie die vier jungen Musiker zwischen den Extremen hin- und herpendeln, sich dem Ausdruck in rückhaltloser Radikalität hingeben, wirkt berauschend. Dabei scheinen ihre Instrumente im Diskurs miteinander eins zu werden, in denselben Schwingungen zu atmen, in den exzessiv verdichteten Tönen aufzugehen, daraus wie aus sich selbst in die Soli hervorzutreten. Ob sie nun, wie es ihr Mentor Brendel ausdrückt, im Kopfsatz "Metastasen in Variationenform" bilden, im langsamen Andante zweimal den "hellen Wahnsinn" heraufbeschwören oder im Finale jeden "gesitteten musikalischen Rahmen" sprengen: Allein schon der schwebende Dreiklang zu Beginn, der urplötzlich nach Moll wechselt, in wild gezackte Rhythmen überschlägt, ist phänomenal und schockierend zugleich in Szene gesetzt. Markante Unisono-Stellen, kraftvolle Doppelgriffe, unheilschwanger bebende, elektrisierende Tremoli und Tonrepetitionen voll innerer Unruhe, die sich flüsternd vom "harmonischen Niemandsland" bis zum Delirium steigern, bäumen sich auf zu schonungsloser, schier orchestraler Wucht. Zu allen flehenden Liebesträumen, leisen Gebeten, zaghaft schwankenden, sehnsüchtigen Ländlermelodien oder innigen Liedandeutungen schimmert stets ein im Ansatz vollmundiger, weicher und doch energetischer Gesamtklang durch, jegliche existenzielle Rauheit der Stimmen wird von einem besonderen, samtigen Kolorit überzogen.

In packendem Zugang zeichnet das fantastische französische Ensemble Schuberts mystischen Stimmungsreichtum nach, führt den zweiten, tief melancholischen Satz hin zu einem schmerzvoll verstörenden, expressionistischen Aufschrei, macht das Scherzo zu einem ätherisch entrückten, geisterhaft huschenden, idyllisch trügerischen Gespensterstück aus verkappten Tanzmotiven, stürzt sich einer Zerreißprobe gleich unter wildem Galopp ins atemlose, vor grotesker Lustigkeit strotzende Vexierspiel des Finales mit seiner ausgreifenden Steigerung am Ende.

Atmosphärisch bereiten darauf die skurrilen, schwarzhumorigen Gedichte von Alfred Brendel vor, welche er selbst zur Einstimmung liest. Der große Pianist und musikalische Denker rezitiert so profund wie scharfsinnig, seine Augen leuchten spitzbübisch: Da erscheint Godot wider Erwarten doch - aber zum allgemeinen enttäuschten Befremden nur als kleiner, bärtiger, struppiger Wicht. Künstliche, unfehlbar Klavier spielende Menschen treten in Konkurrenz zu den echten aus Fleisch und Blut; ein ausstaffierter Affe dient als "gepflegter Passagier" einer Familie zum angeblich nachahmenswerten Vorbild. Und ein Klarinettist, der sich für Karl den Großen hält, schrumpft auf Einkaufstaschenhöhe.

Heiter philosophiert Brendel über das Paradoxe von Sinn und Unsinn in der Welt. Absurde Aberwitzigkeiten, nach denen ein informativer Exkurs über das "Fantastische" in der Musik naheliegt. Als Paradebeispiel dafür zieht Brendel unter anderem Schuberts "Wanderer-Fantasie" heran, die zwar gewissen Strukturen folgt, aber nicht streng in das Schema einer bekannten Form passt, sondern vielmehr zwei Kompositionsprinzipien übereinander kopiert. Auf die Spitze getrieben hat Schubert solche progressiven, wegweisenden Prozesse eben in seinem 15. Streichquartett, das im Audi Museum mobile, grandios gespielt von Quatuor Hermès, in seiner ganzen Intensität zwischen aufbrausender Dramatik und kantabler Lyrik zu erleben war. Ausgiebiger Jubel!

Heike Haberl