Ingolstadt
"Viele Schüler brauchen Entlastung"

Rita Bovenz vom Bayerischen Philologenverband sieht "Abstimmung mit den Füßen" für ein neues G 9

02.03.2016 | Stand 02.12.2020, 20:08 Uhr

Fröhliche Pioniere am Ingolstädter Katharinen-Gymnasium: Auch ihre Schule nimmt am Modellversuch "Mittelstufe plus" teil. Die Achtklässler haben deutlich weniger Nachmittagsunterricht und werden erst nach neun Jahren Abitur machen - so wie früher. - Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Elf Jahre nach der Einführung des umstrittenen achtjährigen Gymnasiums (G 8) zeichnen sich die Umrisse einer neuen neunjährigen Variante des Gymnasiums ab: Die "Mittelstufe plus", ein im Herbst gestarteter zweijähriger Modellversuch in 47 Gymnasien, bietet einen entspannteren Weg zum Abitur in neun Jahren mit deutlich weniger Nachmittagsunterricht. Sollte das neue G 9 bayernweit eingeführt werden, bekämen viele Gymnasien jedoch Probleme mit dem Platz sowie mit der Organisation des Lehrangebots - aber die Vorteile würden klar überwiegen.

Das sagte Rita Bovenz (kl. Foto), die zweite Landesvorsitzende des Bayerischen Philologenverbands, der Vertretung der Lehrer an den Gymnasien und Beruflichen Oberschulen unserer Zeitung.

 

Wie würden Sie die Lage der Referendare an den Gymnasien mit einem Wort beschreiben?

Rita Bovenz: Für die, die eine Stelle bekommen haben, wunderbar. Aber bei der Masse der Absolventen ist die Einstellung natürlich katastrophal.

 

Jetzt zum Halbjahr im Februar sind in Bayern von mehr als 700 Bewerbern zwei Drittel nicht eingestellt worden. Hunderte fertig ausgebildete, arbeitslose Gymnasiallehrer stehen schon länger auf Wartelisten. Einige haben jetzt die Möglichkeit, an Mittelschulen zu unterrichten. Sollten sie das tun?

Bovenz: An den Mittelschulen sind 100 Stellen für Gymnasiallehrer geschaffen worden, weil dort der Personalmangel eklatant ist. Das Problem ist allerdings, dass das eine Nachqualifikation erfordert. Sie müssen zwei Jahre lang für ein Referendarssalär an der Mittelschule 27 Wochenstunden unterrichten, dort drei Lehrversuche machen und dann eine mündliche Abschlussprüfung absolvieren. Das ist natürlich zermürbend, wenn man schon ein komplettes gymnasiales Lehramt mit Referendariat hat - eine bittere Pille.

 

In welchen Fällen raten Sie das den jungen Kollegen?

Bovenz: Das raten wir eigentlich gar nicht. Das soll jeder für sich selbst entscheiden. Die Mittelschule mag für den einen oder anderen ein Ausweg aus der Arbeitslosigkeit sein.

Zur nächsten Bildungsstätte: Hochschulen beklagen Lücken vieler Studenten in Mathematik und bieten Einführungskurse, um die Erstsemester auf das nötige Niveau zu heben. Wie beurteilen Sie das?

Bovenz: Es ist richtig, dass die Hochschulen hier eine Aufgabe des Gymnasiums übernehmen. Wobei ich mir habe sagen lassen, dass auch im G 9 der Mathe-Leistungskurs an der Universität wissenstechnisch für drei Wochen gereicht hat. Es war in vielen Fächern immer schon so, dass man schnell auf universitäres Niveau gehen musste. Viele Schüler brauchen Entlastung und längere Lernzeiten. Wir bräuchten eigentlich auch zusätzlich jeden Tag eine Stunde Deutschförderung in der Unter- und der Mittelstufe, weil vieles über Verständnisaufgaben geht. Zudem fehlt oft die Zeit zum Vertiefen. Deshalb wird auch von vielen Eltern und Schülern die "Mittelstufe plus" so gut angenommen, weil sie den Weg zum Abitur wieder in neun Jahren ermöglicht.

 

Ein Modellversuch läuft am Ingolstädter Katharinen-Gymnasium. Die Erfahrungen sind bisher sehr gut, wird berichtet. Bevor sich die Gymnasien für das Projekt bewarben, konnte man jedoch den Eindruck gewinnen, dass das Kultusministerium die Mittelstufe plus auffällig halbherzig und schwerfällig vorbereitete - gerade so, als hätte man Angst davor, dass hier eine Reform zu einem Erfolg wird. Fürchtet die Staatsregierung einen Dammbruch im G 8?

Bovenz: Es wird auf jeden Fall eine Abstimmung mit den Füßen geben. In vielen Regionen stellen wir fest, dass von fünf Klassen in einer Jahrgangsstufe eine den regulären G 8-Zug nimmt und die anderen auf die Mittelstufe plus umsteigen. Wir stellen eine hohe Zufriedenheit bei allen fest, die das gewählt haben, denn grob gerechnet haben die Schüler zwei Fächer weniger pro Jahr in der Mittelstufe und fast keinen Pflichtunterricht am Nachmittag - das ist für viele entscheidend. Es gibt jetzt mehr Übungsphasen, mehr Möglichkeiten zu vertieftem Lernen und auch mehr Eigenständigkeit für die Schüler. Die Mittelstufe plus kommt Jugendlichen auch dann entgegen, wenn sie in der Pubertät mal einen Hänger haben. Und sie ermöglicht es, dass die jungen Leute wieder besser ihren Hobbys nachgehen können. Vom Sport über Chöre bis zur Freiwilligen Feuerwehr - Schüler haben hier tragende Rollen.

 

Die Einführung eines neuen G 9 würde bedeuten, dass an allen Schulen eine komplette Jahrgangsstufe dazukommt. Das dürfte nicht einfach werden.

Bovenz: Ja. Denn das Problem ist, dass vor allem urbane Regionen die Option Mittelstufe plus kaum oder nicht mehr wahrnehmen können, weil die Raumkapazitäten fehlen. Die Schulen platzen aus allen Nähten. Wir müssten viel mehr Schulen bauen. Sollte die Mittelstufe plus landesweit eingeführt werden, wäre das für viele Schulen komplex zu organisieren, gerade an kleinen Gymnasien. Außerdem erfordert die Mittelstufe plus natürlich neues Personal und mehr finanzielle Mittel.

 

Sie zählen viele Bedenken auf. Ist die Position des Philologenverbands zur Mittelstufe plus etwa noch ambivalent?

Bovenz: Nein Es gibt einen Beschluss der Jahreshauptversammlung, wieder ein neunjähriges Gymnasium anzubieten und es auch von neun Jahren her zu denken, aber mit der Möglichkeit, es in einem Schnellläuferzug auch in acht Jahren zu absolvieren. Die Regierung dagegen denkt das Gymnasium von acht Jahren her und sieht eher einen langsameren neunjährigen Zug.

 

Also, haben wir bald wieder ein G 9 in ganz Bayern?

Bovenz: Viele Eltern und Lehrer wünschen sich ein neues neunjähriges Gymnasium. Das hängt natürlich auch von der Finanzierbarkeit ab. Aber wenn die Abstimmung mit den Füßen so weitergeht, werden sich ganz viele für ein neunjähriges Modell entscheiden.