Verzeihung und Aussöhnung

Helga Schubert bei den Literaturtagen in der Ingolstädter Harderbastei

23.06.2021 | Stand 26.06.2021, 3:33 Uhr
Selbstironische Schriftstellerin: Helga Schubert im Dialog mit dem Moderator Dirk Kruse. −Foto: Schaffer

Ingolstadt - Drei Heldentaten habe sie an ihrer Tochter vollbracht, erzählt die greise Mutter wenige Tage vor ihrem Tod der Tochter auf der Palliativstation: "Erstens: Ich habe dich nicht abgetrieben, obwohl dein Vater das wollte".

Zweitens habe sie das fünf Jahre alte Kind bei der Flucht aus Hinterpommern per Kinderwagen im Treck bis zur Erschöpfung bis Greifswald geschoben. Und drittens habe sie ihre Tochter nicht vergiftet, als die Russen in Greifswald einmarschierten. Muss diese da ob solch vergiftet vermittelter mütterlicher Liebe nicht traumatisiert und der Mutter lebenslang gram sein? Nein, durchaus nicht: In ihrem Erzählband "Vom Aufstehen" legt die 81 Jahre alte Autorin Helga Schubert Zeugnis ab von Verzeihung und Aussöhnung, von Lebensweisheit und Altersklugheit.

Ihr Buch, für dessen Titelerzählung sie voriges Jahr zur ältesten Bachmann-Preisträgerin avancierte und das nun nominiert war für den Preis der Leipziger Buchmesse, ist wohl auch deshalb ein Bestseller geworden, dessen 12. Auflage soeben ausgeliefert wird. Ein Glücksfall, dass sie für die 28. Ingolstädter Literaturtage gewonnen werden konnte, wo sie am Dienstag weit mehr als die in der Harderbastei zugelassenen 40 Zuhörer gern live erlebt hätten - nach zwei Lesungen in Ansbach und München erst ihre dritte Lesung in Präsenz aus diesem Buch.

Neben der Titelgeschichte, eine Hommage an Ingeborg Bachmanns Erzählzyklus "Das dreißigste Jahr" und zugleich ein Kaleidoskop der autobiografischen Hauptmotive all der anderen 28 Erzählungen des Bandes, las Helga Schubert nur noch die kurze Erzählung "Vom Winter", anhand derer sie poetologisch illustrierte, inwiefern sie ihre Texte vom Schlusssatz her denkt. Den Großteil des Abends füllte jedoch der Dialog mit Moderator Dirk Kruse aus. In ihren Antworten, Erinnerungen, Reflexionen erweist sich Helga Schubert als gewandte, lebenskluge, so sensible wie selbstironische Schriftstellerin, die auch mit 81 Jahren noch durch und durch lernbegierig und lebensfroh, ja jugendlich und zugleich weise wirkt. Das Spektrum der Themen reicht von den Bedingungen des Dichterinnen-Daseins in der DDR über das Berufsleben als Psychotherapeutin und ihre Poetologie bis hin zu ihrem von Grund auf humanen Menschenbild.

Helga Schubert erzählt, warum sie vor 40 Jahren die erste Einladung zum Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb auf SED-Geheiß nicht annehmen durfte ("Wollen Sie da vor Marcel Reich-Ranicki vortanzen? "), aber zugleich den Eindruck vermeiden sollte, dass es ihr in der Tat verboten worden war. Doch eine Existenz als Autorin unter DDR-Zwängen könne man "in Ingolstadt ganz schlecht erklären: Sie hatten ja hier die wunderbare Marieluise Fleißer! " In ihren Anfängen habe sie viele Gedichte geschrieben und diese im privaten Kreis gelesen - bis ihr zuerst ihr Chef in der Psychotherapie-Abteilung der Klinik und später die Autorin Sarah Kirsch geraten hätten, sie müsse ihre Texte publizieren - aber bitte lieber Prosa als Gedichte! Die SED-Politik billigte ihr Publikationen im Westen zu, wenn nur die Devisen in den Osten flössen. Später habe sie die andere Seite des Bachmann-Wettbewerbs erlebt, als sie ab 1987 selbst dort als Jurorin berufen wurde: "Ich wollte da zwar gern nach Österreich, aber nicht so gern über andere richten! " Im Gegensatz etwa zur Süffisanz Hellmuth Karaseks, der sich ans Publikum gewendet kumpelhaft über die Kandidaten lustig machte.

Helga Schubert macht keinen Hehl daraus, dass in ihrem Buch Autorin und Erzählerin nicht getrennt werden müssen - "ich kann nur über das schreiben, was ich erlebt habe. Aber es ist ein Extrakt, ich habe es reflektiert - und vieles ist exemplarisch! " Von ihrer Mutter konnte sie freilich erst erzählen, als diese im Alter von 101 Jahren gestorben war. Ihr Rezept, Tragisches zu bewältigen, liegt im Meiden von Pathos und im Einsatz von Humor. Feilen müsse sie nicht an ihren Texten, weil sie diese lange bedenkt: "Ich bin darüber stets im Gespräch mit mir - und mit dem lieben Gott! "

DK