Unvollendete Konzert-Sinnlichkeit

Mit Valery Gergiev wagen die Münchner Philharmoniker das erste Publikumskonzert

24.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:32 Uhr
Marco Frei
  −Foto: Engels

München - Die Corona-Pandemie hat ihn besonders hart getroffen.

Jedenfalls ist es kein Geheimnis, dass sich Valery Gergiev unter normalen Umständen als rastloser Jetsetter geriert. Am wohlsten scheint sich der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker und des Mariinski-Theaters in Sankt Petersburg unterwegs zu fühlen, wenn er durch die Welt düst. Da kann es vorkommen, dass er nicht pünktlich zu einem Konzert erscheint: weil der Flieger verspätet landet.

Nach einem Konzert ist Gergiev nicht selten prompt auf dem Weg zum Flughafen, um zum nächsten Auftritt zu hechten. Die Corona-Pandemie hat vieles lahmgelegt, auch den Reisebetrieb. Jetzt musste Gergiev als "Zwangs-Entschleunigter" lange Zeit bei sich daheim in Petersburg ausharren. Seine Münchner Philharmoniker haben währenddessen natürlich nicht Däumchen gedreht. Die anfängliche Schockstarre zu Beginn der Corona-Pandemie hat der Klangkörper vergleichsweise zügig überwunden.

Seit fünf Wochen spielen sie wieder: online und ohne Publikum. Ihre Internet-Angebote waren mitunter sogar spannender als anderswo, zumal auch Debüts von Dirigentinnen dabei waren. Trotzdem ist allen die Erleichterung anzumerken, dass es endlich mit Publikum vor Ort losgeht. Für die ersten zwei Live-Konzerte mit Publikum ließ es sich Gergiev nicht nehmen, von Sankt Petersburg nach München zu fliegen. Dafür hat er eine Sondergenehmigung bekommen. Mit ihr konnte er am Tag vor dem ersten Konzert in Deutschland einreisen.

Die Bedingung: Noch in Russland musste sich Gergiev am vergangenen Wochenende auf Corona testen lassen. Das Ergebnis fiel natürlich negativ aus. Damit war Gergiev gesundheitlich bestens gerüstet für das allererste Konzert. Für das zweite am heutigen Donnerstag hatte er sich in München erneut testen lassen müssen. Sonst aber waren die Hygiene-Maßnahmen bekannt. In der großen Philharmonie am Gasteig waren nur wenige Gäste zugelassen. Sie saßen mit Masken und in großen Abständen im Saal verstreut.

Besonders spannend war das Programm des Konzerts am Dienstag. Mit dem 1933 komponierten Klavierkonzert Nr. 1 mit zusätzlicher Solo-Trompete von Dmitri Schostakowitsch und der Sinfonie Nr. 1 von Sergei Prokofjew stand auch Haupt-Repertoire von Gergievs an. Das Klavierkonzert von Schostakowitsch ist eine kühne Stilmischung aus Salonmusik, Jazz und Neoklassizismus. Manches klingt nach Kurt Weill oder der französischen Moderne der "Group des Six".

Genau das haben Anna Vinnitskaya am Klavier und Guido Segers, Solo-Trompeter der Philharmoniker, wunderbar verlebendigt: stilgerecht und frech. Zuvor kam der Neoklassizismus von Prokofjew insgesamt recht leichtfüßig daher. Trotzdem mussten sich das Orchester und Gergiev anfangs erst noch etwas finden. Den Abschluss bildete die "Unvollendete" von Franz Schubert, und das hätte nicht passender sein können.

Jedenfalls wirken auch die jetzigen Publikums-Konzerte mit den überstrengen Auflagen ziemlich unvollendet. Eine Besucherin brachte es auf den Punkt: "Wann enden endlich diese widersprüchlichen Auflagen? Wann gibt es wieder sinnliche Konzerterlebnisse? " Und Gergiev? Der weilt noch bis Freitag in München. Ob er nach Petersburg zurückfliegt oder nach Ravenna weiterreist, wo Riccardo Muti ein Festival hat, das steht noch nicht fest. Aber: Er ist wieder unterwegs.

DK


Marco Frei