Ingolstadt
Unterkühlte Seelenlandschaft

Andrè Schuen singt Franz Schuberts "Winterreise" im Ingolstädter Festsaal

07.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:21 Uhr

Der junge österreichische Bassbariton Andrè Schuen wurde bei seinem Vortrag der „Winterreise“ in Ingolstadt von Daniel Heide (links) begleitet. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Der Liederzyklus endet offen. Andrè Schuen, der junge österreichische Bassbariton, singt die letzten Worte des „Leiermann“, als sollte sein Gesang sich noch ewig fortsetzen, genauso wie das eintönige Dudeln der Drehorgel: „Wunderlicher Alter / Soll ich mit dir geh’n? / Willst du meinen Liedern / Deine Leier dreh’n“

Aber das Konzertvereins-Publikum spürt: Dieses Ende von Schuberts „Winterreise“ ist metaphysisch. Es weist über sich selbst hinaus in den Tod. Andrè Schuen kann diesen Übergang in eine andere Welt darstellen. Er steht da wie erstarrt, blickt in die Ferne, die letzten Töne verklingen kaum, wirken eher wie abgerissen. Und das Publikum wagt wie gelähmt lange Zeit nicht zu klatschen – bis der Beifall ganz verhalten anhebt, immer stärker wird und Bravorufe ertönen.

Die Anforderungen dieses wohl berühmtesten Liederzyklus sind immens. Sänger und Liedbegleiter am Flügel müssen nicht nur hervorragende Musiker sind. Sie müssen diese hintergründige Geschichte in Liedern auch verkörpern. Schuen versteht das wie nur wenige. Im dunklen Anzug steht er auf der Bühne des Theaterfestsaals, blickt die 24 Lieder hindurch immer wieder in die Runde und scheint dem Publikum das Schicksal des unglücklich verliebten Wanderers persönlich zu erzählen.

Dabei kommt dem 31-jährigen Künstler zu Hilfe, dass er über grandioses Stimmmaterial verfügt. Sein Bariton ist kraftvoll und spricht dabei sehr leicht an, sodass er ihn äußerst subtil einzusetzen vermag. Seine Technik ist hervorragend, Pianopassagen werden perfekt gestützt, seine Legatotechnik ist eindrucksvoll, und man versteht fast jedes Wort seines Liedvortrags.

Anders als etwa Daniel Behle, der in der vergangenen Konzertvereins-Saison mit Schuberts „Schöne Müllerin“ ein beeindruckendes Konzert gestaltete, singt Schuen ausgesprochen ungekünstelt, kaum je ironisch, letztlich ausgesprochen schlicht. Das Eingangslied „Gute Nacht“ ist bei ihm nichts anderes als eine Art Volkslied, den schmerzvoll-sehnsüchtigen Mittelteil singt er lediglich ein wenig lauter. Die „Wetterfahne“ ist wild und stürmisch, aber niemals ironisch gebrochen. Die letzten Worte des Liedes, die andeuten, warum der Reisende in seiner Liebe keinen Widerhall findet, sind bei Schubert fast schon schockierend in Dur gewendet: Schuen gibt die Zeile „Ihr Kind ist eine reiche Braut“ (eine standesgemäße Ehe ist daher unmöglich) in trotzigem Fortissimo.

Überhaupt Schuens ungeheure Ausbrüche: Was für ein Vergnügen diesen Wirbelwind des „Stürmischen Morgens“ zu hören. Schuens Stimme trompetet die Töne in den Saal mit enormer Dichte und sehr viel Metall. Wunderbar! Und zu welchen Kraftentfaltungen er fähig ist: Im „Frühlingstraum“ verliert er sich nahezu in der zarten Anfangsmelodie, um dann ungeheuerlichen Zorn zu mobilisieren. Von diesen Kontrasten lebt der Liederzyklus, der alle Schattierungen der unglücklichen Verliebtheit erfahrbar macht: von der nackten Verzweiflung und Todessehnsucht bis hin zum Herzklopfen in froher Erwartung und dem Rausch der Erinnerung an glückliche Zeiten. Aber alle 24 Lieder sind doch Ausdruck tiefster Depression. Es ist ungeheuer schwer und zermürbend, diese unterkühlte Seelenlandschaft auszuloten. Schuen gelingt das, weil er so ernsthaft bleibt, weil er jedem Manierismus aus dem Weg geht, weil jeder Ton schlicht und dadurch authentisch daherkommt. Genauso wie die Töne seines Klavierbegleiters Daniel Heide, der manchmal fast schon zu zurückhaltend, ja, fast starr spielt und jedenfalls niemals gekünstelt auftrumpft.

Dieser Liederabend ist so erschütternd, dass das erste Lächeln der Künstler an diesem Abend, beim Schlussapplaus, geradezu irritiert.