Ingolstadt
Unsere Besten

30.12.2010 | Stand 03.12.2020, 3:18 Uhr

Madness takes it’s toll: Kult ist mittlerweile die Inszenierung der "Rocky Horror Show" am Theater Ingolstadt – eines der Highlights der Saison. - Foto: Theater

Ingolstadt (DK) Reich, unglaublich reich gefüllt war das Kulturjahr 2010 in der Region. Und das nicht nur mit Veranstaltungen der üblichen städtischen Reihen und Festivals, die im Einzelfall ja mitunter ihren Glanz schon längst verloren haben.

Nein, es gab richtig neue, richtig spannende, lebendige Events, die Hoffnung machen auf ein eines Tages tatsächlich großstädtisches Kulturleben vorort. Zum Beispiel die allererste "Ingolstädter Kunstmesse" im Klenzepark, ein dreitägiges, quirliges Ausstellungs- und Verkaufsevent ganz ohne Schwellencharakter und mit Kunst jeder Couleur von 70 Künstlern aus den Donaustädten der Region – verbesserungswürdig, aber immerhin ein Experiment, das Lust macht auf mehr. Es gab die glanzvolle Eröffnung des bayernweiten Literaturfestivals Update Bayern am gleichen Ort, das die Schanz unversehens zum Mittelpunkt machte für die Welt der guten Literatur und zugleich hochrenommierte Autoren, darunter den frischgekürten Bachmann-Preisträger, Peter Wawerzinek, in die Städte der Region 10 entsandte. Oder die an die Nacht der Museen angegliederten "Designgepräche", die, an ungewohntem Ort und ausschließlich mit Nachwuchsdesignern, für kurze Zeit frischen Wind mitten in die Altstadt brachten. Nicht ganz so überraschend, aber nicht weniger erfreulich: Die hochqualitativen Gastspiele der Musikstars im Rahmen der jährlichen Audi Sommerkonzerte oder im Bürgerhaus Diagonal, das heuer mit dem Auftritt von Hazmat Modine ein ganz besonderes, wenn auch etwas übersehenes Jazz-Highlight setzen konnte. Dazu Theater: Eindeutig geht in Ingolstadt der Trend zum Kleinen Haus und seinen frischen, unkonventionellen Inszenierungen. Fanden jedenfalls gleich zwei Mitarbeiter der Kulturredaktion bei unserem persönlichen "Best Of"

Großes Kleines Haus

Das Kulturhighlight 2010 ist für mich eine Einrichtung, die ich in Ingolstadt nicht mehr missen möchte: Das Kleine Haus des Theaters. Egal, ob das Kleine Haus-Team dort selbst am Werk war oder ob Gästen Raum und Zeit gegeben wurde, die meisten Abende waren kurzweilig und sehenswert. Gespielt wurden etwa Feridun Zaimoglus "Schwarze Jungfrauen" in einer beklemmenden Inszenierung, eine aufregend präsentierte "Hamletmaschine" von Heiner Müller oder die monatliche, dabei immer wieder absurd-komische Reihe "Talk Talk". Es gab Dichterlesungen, Konzerte und Tanz. Dazu ein stimmiger "Johnny Cash: The Man in Black" sowie die gelungene Eröffnung des "Literatur Update Bayern"-Festivals. Glückwunsch und: Bitte so weitermachen, Kleines Haus!

? Michael Kleinherne

Virtuoser Klezmer

Manchmal erlebt man Konzerte, die einen völlig in ihren Bann ziehen und deren positive Nachwirkung noch tagelang anhalten kann. Zu dieser Kategorie zählte das Konzert mit dem Klezmer-Quintett Kolsimcha. Die fünf Musiker, unter ihnen auch Ariel Zuckermann, spielen hochvirtuose Arrangements mit einer augenzwinkernden Leichtigkeit, über die man nur staunen kann. Ihre Musik ist so mitreißend und originell, dass man sofort von ihrem heiteren Wesen angesteckt wird.

Ob bei ihren rasend-schnellen Melodien, fast zügellosen Jazzimprovisationen oder sphärisch-melancholischen Klängen, den Musikern sieht man die Freude an ihrer Musik an. Bei ihrem Konzert in Ingolstadt steckten sie auch das Georgische Kammerorchester damit an, das einige Stücke mit viel Feuer mitgestaltete. Im Publikum sah man überall lächelnde Gesichter – es ist beeindruckend, welche Wirkung die Musik manchmal entfalten kann. ? Katrin Poese

Ausgeflippt!

In diesem Jahr gab es wirklich viel großartiges Theater in Ingolstadt zu sehen, doch eine Aufführung, gerade mal 70 Minuten lang, schlägt alle ihre Konkurrenten im Großen Haus: Die "Hamletmaschine". Heiner Müllers Textkonglomerat war in einer ungemein packenden und ausgeflippten Aufführung, mit guten Regieideen und hervorragenden Schauspielern zu erleben! Auch ein Beispiel für die großartige Theaterarbeit im Kleinen Haus – modern, ausdrucksstark, etwas experimentell, manchmal witzig und auch schockierend. Wie schön, dass auch unbekannte Texte hier einmal auf völlig neue Art erlebt werden können.

? Jonathan Spanos

Die Beste

Anne-Sophie Mutter, immer wieder Anne-Sophie Mutter. Über die bedeutende Geigerin ist unfassbar viel geschrieben worden, ganz ähnlich wie einst Herbert von Karajan hat sie Bewunderer und Verächter. Wenn sie allerdings einmal völlig neue Wege der Verinnerlichung geht, einen neuen Grad, nein, nicht der technischen Perfektion, sondern des Tiefsinns erreicht, dann sollte man aufhorchen. Bei den Sommerkonzerten heuer spielte sie zusammen mit dem Pianisten Lambert Orkis die drei Violinsonaten von Johannes Brahms. Ins Zentrum, in die Mitte des Programms, stellte sie dabei die erste Sonate, die Regenliedsonate: eine verstörend schöne und zugleich Irre machende Trauermusik, die den Tod von Clara Schumanns Sohn Felix verarbeitet. Anne-Sophie Mutter interpretierte das Stück ausgehend vom langsamen Satz, so todesfahl, so gelähmt vorankriechend, so unheimlich stockend und todesnah, dass uns das so nah ging wie nichts anderes mehr in diesem Kulturjahr. Anne-Sophie Mutter mag ein gehyptes Medienevent sein. Aber sie ist immer noch die Größte.

? Jesko Schulze-Reimpell

Männer mit Flügeln

Das Kulturereignis des Jahres zu finden, ist jedes Jahr aufs Neue schwierig, da in der Region so viel Kulturelles für jeden Geschmack geboten wird. Erinnerungswürdig waren jedoch zwei Männer mit zwei Flügeln im Ingolstädter Festsaal, die besonders aus der Masse der Künstler hervorgetreten sind: Der Eine mit "Klavierkabarett in Reimkultur", der Andere mit Jazz und zeitlosen Cover-Nummern in ganz eigener Handschrift. Bodo Wartke und Jamie Cullum haben jeweils die Zuhörer zum Jubeln gebracht und in ihren Genres virtuos geglänzt.

Bodo Wartke ist ein Meister der verdrehten Wortspiele und hat sich als ein Highlight der 26.Ingolstädter Kabarett-Tage erwiesen. Er schafft es, mit wenigen, einfachen Worten seine Gedanken auf den Punkt zu bringen, ist ein richtiges Allround-Talent und ein wahrer Entertainer mit viel Esprit.

Jamie Cullum spielt und singt in seiner unvergleichlich lässig-gefühlvollen Art und Weise und sorgt damit auf den 27.Ingolstädter Jazztagen für einen unvergesslichen Abend. Selbst als die Technik versagt, erfreut er seine Fans mit einer Akustik-Version von "Cry me a river" (Justin Timberlake). Hut ab vor diesen beiden Musikern, die nicht nur höchst professionell agieren, sondern auch mit ihrem Charme das Publikum in ihren Bann ziehen!

? Sandra-Isabell Knobloch

Music At It’s Best!

Es gibt Konzerte, die man nicht toppen kann. Coco Montoya aus Los Angeles, der einst bei John Mayall in die Lehre ging und nur selten in Europa auftritt, kam im Mai zum Ingolstädter Bluesfest in die Fronte, legte zwei denkwürdige Sets hin und war für mich trotz heuer besonders starker Konkurrenz der Star des Festivals 2010. Handwerkliche Brillanz, eine eigene und unverkennbare musikalische Handschrift und innovative Kompetenz – das haben die wirklich Guten unter seinen Kollegen auch, aber wie er an diesem Abend als Gitarrist geradezu einen tollkühnen Ritt vollführte auf den mörderischen Grooves seiner überragenden Band, wie er die Leute im Saal an der Hand nahm und sie mitriss, mitten hinein in einen leidenschaftlichen Klangstrudel, in dem nur noch eines gilt, die pure Hörlust nämlich – das hatte wahre Klasse und vor allem Rasse.

Musik hat mit Emotionen zu tun. Montoya machte sie erfahrbar, spürbar, mit Ohren, Bauch und Seele erfahrbar. Einen wie ihn hört man trotz jährlich wiederkehrender Festivals nur ganz selten. Auf dem Papier war das alles lediglich Blues, in meiner Erinnerung jedoch – auch heute noch – "Live Music At It’s Best!"

? Karl Leitner

Barock komplett

Ein beschwingter Dreiklang aus Raumerleben, Programm und Interpretation war der Auftritt der Blockflötistin Dorothee Oberlinger mit dem Ensemble Sonatori de la Gioiosa Marca bei den Audi Sommerkonzerten. Virtuoses Spiel war von der weltweit gefragten Musikerin zu erwarten. Doch die 1969 geborene Oberlinger inszenierte unter dem an heiteren und fantasievollen Szenen reichen Deckengemälde der Rokokokirche Maria de Victoria mit theatraler Begabung die Naturschilderungen des Barockmeisters Antonio Vivaldi. Dazu souveräne Ausdrucksvielfalt, erfrischende Kreativität gegen Hörgewohnheiten – und viel Charisma. Ein "schaut her!" und ein "hört hin!". ? Katrin Fehr

Extremerfahrung

Aus einem insgesamt ereignisreichen Klassikjahr 2010 ragt für mich ein Konzert heraus, das manche Klassikfans eher in die Flucht geschlagen hat: Das Gastspiel der Salzburger Festspielen bei den von Audi veranstalteten Sommerkonzerten. Schon der Mut, mit Wolfgang Rihms "Tutuguri" ein nicht bequem zu konsumierendes Werk als Event zu platzieren, verdient Beachtung. Sodann ist es ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, das angesichts des enormen Aufwands sonst kaum zu hören ist. Und dann noch komplett, in solcher Qualität und künstlerischer Intensität, interpretiert von Stars wie Ingo Metzmacher und Martin Grubinger. Die extremen Klangentladungen sprengten zwar akustisch den Festsaal. Aber ausgestattet mit den beiliegenden Ohrstöpseln, konnte man sich fasziniert von den kunstvoll gebündelten Energieströmen berühren lassen, ohne davon Schaden zu nehmen. Musik als Extremerfahrung – man muss es einfach erlebt haben. ? Jörg Handstein

Fließendes Wort

Die Wahl fällt schon ein wenig schwer in diesem Jahr. Nämlich zwischen der Eröffnung der Ingolstädter Designgespräche und dem Auftakt des Literatur Update Bayern Festivals, das zugleich den Beginn des regionalen Literaturfests Fliesstext 10 in der Region markierte. Prallen Genuss bot schließlich beides: Die Eröffnung der herrlichen Designausstellung in der ehemaligen Ganghoferschen Buchhandlung, die bewies, dass es hinreißendes junges Alltagsdesign, vor allem aber noch andere Kultur, andere Orte, andere Leute und einen anderen Geist gibt hier als hierzuland gewohnt.

Und die Literatur-Update-Vernissage im Exerzierhaus im Klenzepark. Was passte besser zum Auftakt eines solchen Festivals als gleich dreimal künstlerisches Wort? Das berückend, präzise, körperhafte, sich als innere Heimat verortende des Georg Klein, Büchner-Preisträger, der die unglaublich präzise Eröffnungsrede hielt. Das flüchtige, virtuelle, wesenlose der Wasserfall-Installation von Julius Popp – der Leipziger Kunststar ließ mit hochkompliziertem Computerprogramm Wassertropfen als Worte von der Decke fallen, poetisch und scharf zugleich.

Und, später im Kleinen Haus, wo der Abend weiterging, das emotionale, suchende der jungen Literatin Pauline Füg. Was für ein Gesamtpaket!

? Karin Derstroff