München
Unkontrollierbare Kraft

Die Münchner Kunsthalle Lothringer 13 widmet sich dem Atomzeitalter

04.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:17 Uhr
Joachim Goetz
Einblicke: Michael Danner hat 17 deutsche Kernkraftwerke, das Endlager Asse II und Gorleben dokumentiert. −Foto: Danner

München (DK) Nicht mehr im Sandkasten spielen, keine frische Milch trinken, Salat und Rohkost - verboten!

Der Kurator - am 26. 4. 1986 im Kindesalter - kann sich noch gut an die damaligen elterlichen Auflagen, an die ihn irritierende Umwertung aller Werte erinnern. Kurz nach dem Super-GAU von Tschernobyl. Als der Fallout dank Ostwind West-Europa heimsuchte, die Bequerellwerte in die Höhe schossen, Strontium 90, Cäsium 137 und Jod 131 in aller Munde waren - und eine Zeitlang alles bis dahin Gültige auf den Kopf stellte.

Nun beschäftigt sich die Münchner Kunsthalle "Lothringer13" mit dem Atom, sozusagen der Grundlage allen Übels. Zu sehen: Arbeiten von 21 internationalen Künstlern, die sich mit der atomaren Technologie, ihrer Bedeutung und den Auswirkungen auf Weltgeschehen und Alltag beschäftigen. Interessanter als gedacht. Nicht nur wegen der Vielfalt der Medien, die Fotografie, Video und Installationen oder Zeichnungen und Malerei einschließt. Der Titel verwirrt erstmal, ist aber dann doch einfach: "Little Boy's Luminous Legacies (new, clear, atomic narratives)". Das leuchtende Erbe des kleinen Jungen (neue, klare, atomare Erzählungen). Auflösung: "Little Boy" war der Nickname der Hiroshima-Bombe von 1945, deren Abwurf die wohl tödlichste Minute der Menschheit auslöste. Grundlage: Dem italienischen Physiker und Nobelpresiträger Enrico Fermi war die erste kontrollierte Kernspaltungskettenreaktion gelungen. Am 2.12.1942 - der Beginn des Atomzeitalters. Das Bilder mit einem gewissen fotografischen (Würge)Reiz hervorbrachte: Ästhetisch beeindruckende Atompilze, verschwundene Städte, eingebrannte Schatten.

Was bietet nun aber die jüngere Kunst zum Thema? Unkontrollierbare Kräfte, unsichtbare Gefahren oder strahlende radioaktive Partikel lassen sich ja nicht so einfach darstellen. So wird die Frage nach dem Atomaren häufig eine Frage nach dem Phantom, nach der unsichtbaren Parallelwelt neben der greifbaren. Was freilich Ängste auslöst und womit oft gearbeitet wird. Bilder, Videos von anscheinend unberührten ja traumhaften Landschaften sind zu sehen - die aber dann doch irgendwie kontaminiert sind.

Ein Beitrag von Michael Danner nennt sich "Critical Mass" - "Kritische Masse". Der 1967 geborene Künstler hat in einem Buch Architektur, Alltag und Sicherungssystem der 17 deutschen Kernkraftwerke sowie vom Endlager Asse II und von Gorleben dokumentiert. Robert Voit zeigt aus seinem von 2012 bis 2018 angefertigten "Fukushima Archive" einen kleinen Ausschnitt, der die Dekontamination und Strahlenvermessung einer Landschaft bebildert. Kota Takeuchi, Bewohner von Fukushima, widmet sich in einem Video den falschen Informationen, Gerüchten um den Unfall - einem "Informations-Desaster", das als ernsthaftes aktuelles Problem unserer Gesellschaft erkannt wird.

Beängstigend dann die bildschönen Aquarelle und Farbzeichnungen von Cornelia Hesse-Honegger, die im Umkreis von Kernkraftwerken Pflanzen und Insekten sammelte - und zahllose mutierte Exemplare fand. Die sie dann abbildete: ohne Thorax, mit zu kurzen, ungleich langen und missgebildeten Flügeln, mit viel zu blassen Farben, mit deformierten Fühlern. Wissenschaftler halten die Strahlung rund um KKW für zu gering, um solche Phänomene auszulösen. In Ghana - wo die Künstlerin ebenfalls Insekten einsammelte - konnte sie keine Missbildungen entdecken.

Lothringer 13, bis 9. Juni, geöffnet Dienstag bis Sonntag 11 bis 20 Uhr. Weitere Informationen unter www. lothringer13.com.

Joachim Goetz