Überzeugender Priester mit Blick für Menschen

23.10.2007 | Stand 03.12.2020, 6:24 Uhr
Prälat Wilhelm Reitzer an seinem 90. Geburtstag Ende September in Ingolstadt: Am Montagabend starb der beliebte Geistliche. - Foto: Rössle −Foto: Ulli Roessle

Ingolstadt (DK) Er werde ein wenig vergesslich, konstatierte Prälat Wilhelm Reitzer auf dem Stehempfang im Anschluss an die feierliche Altarweihe im Ingolstädter Münster vor zehn Tagen. "Aber angesichts des Leidens vieler anderer Senioren", sagte der bewundernswert rüstige 90-Jährige weiter, "bin ich rundum zufrieden." Am Montagabend ist der beliebte katholische Geistliche im Klinikum Ingolstadt gestorben. Am vorigen Mittwoch – knapp drei Wochen nach seinem 90. Geburtstag – hatte er nach einem Schwächeanfall bereits auf die Konzelebration der Frühmesse im Münster verzichten müssen.

Längst hatte Prälat Reitzer mittels einer christlichen Patientenverfügung unnötig lebensverlängernde Maßnahmen abgelehnt. Seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Sterbenden waren prägend: Reitzer wollte, "in Frieden sterben, so sterben, wie Gott es will". Diese unbedingte Akzeptanz des göttlichen Willens und sein unerschütterlicher Glaube machten ihn so überzeugend. Gerade auch bei der Kommunikation der christlichen Botschaft.

Brillante Predigten

Denn Reitzer redete gerne Klartext. Als er 1987 nach Ingolstadt zurückkehrte, formulierte er in einer seiner brillanten Predigten im Münster auch durchaus Non-Konformes mit Rom: Die Gläubigen holten hörbar Atem, als der Prälat in Zeiten der heftigen Diskussion um das Frauenpriestertum erklärte, er könne sich für die Zukunft der katholischen Kirche auch eine Bischöfin wie etwa Maria Jepsen durchaus vorstellen. Die Hamburger Theologin war die erste evangelische Bischöfin in Deutschland. Und Reitzer wagte es auch, die starre Haltung der katholischen Kirche zum Zölibat mit Blick auf die unierten Christen zu hinterfragen. Bei beiden Themen standen allerdings nie Glaubensfragen zur Diskussion, sondern vielmehr Überlegungen zur Kirchenordnung.

"Ich bürste schon auch mal gerne gegen den Strich", sagte Prälat Reitzer vor Jahren schmunzelnd. Auf diese Weise verblüffte er sein Gegenüber immer wieder. Umso mehr, da der Geistliche eine beachtliche Kirchenkarriere durchlief. Pfarrer, Domkapitular, Finanzdirektor in der Diözese Eichstätt, von 1979 bis 1987 in Wien als Leiter des Europäischen Hilfsfonds. Gerade in letzt genannter Position nahm er eine Aufgabe von internationaler Bedeutung wahr – in Zeiten des Kalten Krieges und wachsender Angst vor atomaren Konsequenzen des Ost-West-Konfliktes sollte Reitzer als "Mittelsmann für den Ostblock" das kirchliche Leben dort "durch brüderliches Gespräch und finanzielle Zuwendungen" unterstützen und stärken. "Eine hochsensible Aufgabe, die viel Fingerspitzengefühl erforderte", zog Reitzer später einmal Bilanz aus seinen zahllosen Treffen mit hochrangigen Kommunisten. Ins Detail gehen wollte er bei seinen Erzählungen nicht.

Wilhelm Reitzer wurde am 27. September 1917 in Zandt bei Denkendorf (Kreis Eichstätt) geboren. Er wuchs mit zehn Geschwistern in einer tief religiösen Familie auf. "Priester wollte ich schon als Kind werden", erzählte Reitzer gerne. Er setzte sich beim Vater durch, durfte das Gymnasium in Eichstätt besuchen. Der Zweite Weltkrieg und die Gefangenschaft in Frankreich unterbrachen sein Theologiestudium. "Doch ich hatte Glück und kam in das Kriegsgefangenenlager für Priester und Theologiestudenten in Chartres", beschreibt Reitzer diese Zeit. Eine Zeit voller Entbehrungen, ein Leben in der Baracke. Und "ein Priesterseminar hinter Stacheldraht", das Reitzers Berufung für ein Leben als Priester gleichwohl bestärkte. Noch in hohem Alter erzählte Reitzer von dem beeindruckenden Besuch des damaligen Apostolischen Nuntius Angelo Roncalli, des späteren Papst Johannes XXIII., in Chartres. Nach der Freilassung beendete Reitzer sein Studium und wurde 1948 zum Priester geweiht.

Es folgten Stationen in Wemding, Greding und Ingolstadt mit Engagements für die Kolpingsfamilie und die CAJ (Christliche Arbeiterjugend). 1958 übernahm Reitzer als Kurat und ein Jahr später als erster Pfarrer die neu errichtete Pfarrei St. Augustin in Ingolstadt. Lebensabschnitte in Eichstätt und Wien folgten, bevor Reitzer 1987 wieder nach Ingolstadt kam – in der Zwischenzeit für sein Wirken auf nationaler und internationaler Ebene vielfach ausgezeichnet: unter anderem als mehrfacher Ehrendomherr, Ehrenbürger seiner Heimatgemeinde Denkendorf, Träger der Goldenen Bürgermedaille der Stadt Ingolstadt und Träger des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Doch weder Ehrungen oder Verdienstmedaillen noch das Rentenalter konnten Reitzer 1987 davon abhalten, wieder "an der Basis" zu arbeiten: als Hochschulseelsorger an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, als Vertretung in verschiedenen Pfarreien und, ab 1997, als Seelsorger im Heilig-Geist-Spital in Ingolstadt.

Diszipliniertes Leben

Das "Auf-die-Menschen-Zugehen" hat er sich bewahrt. Ebenso sein offenes Ohr für den Anderen gleich welchen Alters, auch bei sensiblen Themen, auch bei Kontroversen über Kirche und Welt. Ein Priester mit glasklarer Glaubensüberzeugung, scharfem Intellekt und feinem Humor war er weit davon entfernt, verkrustet zu wirken. Und er war ein diszipliniert lebender, fast asketischer Prälat: Begegnungen mit dem hochgewachsenen, hageren Hochwürden, der zur Winterzeit in Sandalen ohne Socken zackig durch die Straßen marschierte, ließen manch einen Ingolstädter den Kopf schütteln. Ein von ihm betreuter Student meinte: "ein tougher Priester".

In seinem Testament hat Prälat Wilhelm Reitzer noch einen Wunsch formuliert, der zu seiner Bescheidenheit passt: Statt Kränzen und Blumen bittet er um Spenden für alte und kranke Priester in Osteuropa.